DARK DARK DARK • Leseprobe

 

 

 

Prolog

Agnetha

Ich bin einem unglaublichen Skandal auf der Spur!

 

Kapitel 1

Damien

Etwas stupst sanft gegen meine Stirn.
Ich reiße die Augen auf und sehe RoboCop direkt vor mir. Er gibt ein surrendes Geräusch von sich, rempelt mich noch einmal an, bevor er wendet und sich einen anderen Weg sucht.
RoboCop ist unser Staubsaugerroboter. Ich bin sicher, dass er nicht gelernt hat, ins Bett zu klettern, also muss ich auf dem Boden liegen.
»Was zum …?« Ich schrecke hoch und stoße mir den Kopf. »Fuckscheißdreckigerhurensohn«, murre ich und reibe mir die schmerzende Stelle.
Normalerweise fluche ich nie, das schwöre ich. Ich weiß nicht, woher dieser unflätige Wortschwall kommt.
Das heißt: Natürlich weiß ich es. Aus meinem Mund. Aber ich bin anständig erzogen worden. Sogar als ich schon volljährig war, haben meine Eltern mir höchstens mal ein Verflixt und zugenäht! durchgehen lassen. Mein Vater stammt aus einem alten Adelsgeschlecht, er legte großen Wert auf tadelloses Benehmen. Es ist meiner Mutter zu verdanken, dass ich nicht in Anzug und Krawatte zur Schule gehen musste, aber fluchen war verboten. Wenn ich einmal sterbe, wird auf meinem Grabstein stehen: Immerhin hatte er Manieren.
Ich taste umher. Staub. Noch mehr Staub. Eine einzelne Socke. Ein paar verstaubte Heftchen. Wollmäuse. Ein Sack mit Schmutzwäsche.
Meine schmutzige Wäsche, denn ich erkenne den vertrauten muffigen Geruch.
Ich hätte den Sack längst schon zum Wasch-O-Mat bringen sollen. Aber ich bin Single. Ich nehme die anderthalb Kilometer Fußweg zum Waschsalon erst dann auf mich, wenn ich absolut kein halbwegs sauberes Shirt mehr zwischen meinen überall verstreuten Klamotten finde. Den Sack mit der Schmutzwäsche verstaue ich solange unter dem Bett, nur für den Fall, dass eine Frau bei mir übernachtet. Was ich zu vermeiden weiß, denn erstens sind die Modellschiffe, die überall in meinem Zimmer herumstehen, ein bisschen peinlich für einen Mann meines Rufes, und zweitens ist mein Mitbewohner Lennart noch viel peinlicher.
Um aber zur wichtigsten Frage zurückzukommen: Warum liege ich unter meinem eigenen Bett und atme alten Staub ein?
Zweite Frage: Wann habe ich das letzte Mal hier saubergemacht?
Auf beide Fragen finde ich keine befriedigende Antwort. Die letzte interessiert mich auch nicht wirklich. Putzen und Aufräumen sind Tätigkeiten, auf die ich keine Lust habe. Punkt. RoboCop darf trotzdem nicht in mein Zimmer, weil … Na ja, Lennart hat mich da verunsichert. Er ist überzeugt, dass der Staubsaugerroboter uns ausspioniert. »Er wird über eine App gesteuert, die mit dem Internet verbunden ist«, hat er gesagt. »Er saugt immer da, wo wir gerade sind. Das ist kein Zufall! Wir dürfen RoboCop nicht trauen.«
Warum also werde ich jetzt von RoboCop geweckt? Wann habe ich ihn in mein Zimmer gelassen?
Ich rutsche unter dem Bett hervor und hinterlasse einen sauberen Streifen auf dem Laminatboden. Obwohl es im Raum stockdunkel ist, kann ich erstaunlich gut sehen. Die Zimmertür steht sperrangelweit offen. Meine Jacke liegt zwischen anderen Kleidungsstücken auf dem Boden und ist mit Flecken übersät. Die unzähligen kleinen Segelschiffe auf den Regalen sind wie üblich mit einer feinen Staubschicht überzogen. Wenn ich ein Modell fertig gestellt habe, kommt es ins Regal und wird von mir vergessen. Ich werde den Teufel tun und die filigranen Galeeren und Viermaster abstauben. Im Grunde will ich sie nicht einmal anschauen. Ich hasse Segelschiffe.
Lennart ist übrigens mein Mitbewohner. Falls ihr zufällig auf YouTube unterwegs seid und euch für Verschwörungstheorien interessiert, kommt ihr an Lennart nicht vorbei. Er ist nämlich Der Durchblicker. Er kennt die perfiden Pläne von denen da oben und lässt sich nichts vormachen. Sagt er. Und damit verdient er sein Geld. Also … indem er es laut sagt.
Ich werde mich auf keinen Fall über ihn lustig machen. Denn dummerweise verdient er ungefähr fünfmal so viel wie ich, indem er mit ernstem Blick in die Kamera raunt: »Es ist ein trockener, sonniger Tag, keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Doch dann zieht ein Flugzeug am Himmel einen Kondensstreifen hinter sich her, der sich eigentlich sofort auflösen müsste. Tut er aber nicht. Im Gegenteil: Er breitet sich aus. Und warum?« Nach einer dramatischen Pause kommt die Auflösung: »Es sind keine Wolken und es sind auch keine Kondensstreifen. Das sind Chemtrails!«
Das ist also Lennart. Ihm gehört die geräumige Altbauwohnung, in der wir beide wohnen. Seine Eltern haben sie ihm geschenkt, bevor sie zwei Wochen nach seinem 18. Geburtstag das Land verließen. Er war ein Unfall, kein Wunschkind und sie konnten es kaum erwarten, ihre Verantwortung abzuschütteln.
Und ich … Nun, dazu kommen wir später. Ich bin nämlich gerade damit beschäftigt, vor Schreck zu erstarren. Die roten Ziffern des Digitalweckers zeigen 02:13 Uhr in der Nacht. In weniger als vier Stunden beginnt meine Schicht.
»Bullfuckmistkackenscheiß«, grummele ich und klopfe mir den Schmutz von der Jeans.
Erst letzte Woche hat mir Frau Schlegel, meine Teamleiterin, gesagt, dass ich auf der Abschussliste stehe. Wenn ich meinen Score auch diesen Monat nicht erreiche, bin ich raus.
Der Score ist eine komplizierte Zahl, die sich aus den Kaufabschlüssen errechnet, zu denen ich unbedarfte Kunden am Telefon überrede, kombiniert mit der Bewertung eben jener Kunden und der Zeit, die ich benötige, um ihnen ein Schnitzel an die Backe zu labern.
Ich arbeite in der Morgenschicht im Inbound Callcenter von Shopping TV. Ihr wisst schon: Zum 16-teiligen Topfset für nur 299,-€ erhalten Sie nur hier und heute einen Silikon-Pfannenwender und ein 200-seitiges exklusives Rezeptbuch gratis dazu. Rufen Sie jetzt an und sichern Sie sich Ihr persönliches Set, denn das Angebot ist begrenzt!
Mein Problem ist, dass ich es nicht übers Herz bringe, einsamen alten Ömmchen diesen überteuerten China-Schrott aufzuschwatzen, bei dem nach zweimaligem Gebrauch der Stiel abbricht (Das exklusive Rezeptbuch ist aus dem Internet zusammengeklickt und billig gedruckt worden). Stattdessen höre ich mir geduldig ihre Lebensgeschichte an, ihre Klagen über die Enkelkinder, die sich nie blicken lassen, und gebe ihnen abschließend den Tipp, am nächsten Samstag zum Flohmarkt am Innenhafen zu gehen und dort für einen Appel und ein Ei ein qualitativ besseres gebrauchtes Set zu erstehen (und dort die Händler vollzuquatschen).
Dummerweise werden alle Kundengespräche aufgezeichnet und ausgewertet.
Die Schlegel mag mich sowieso nicht, weil ich mich für was Besseres halte. Ihre Worte, nicht meine. Sie kennt mich nicht besonders gut, sie kennt halt nur meinen Familiennamen und sie glaubt, dass ich nur aus Jux im Callcenter jobbe, um mich unter das einfache Volk zu mischen. Sie denkt, ich hätte es nicht nötig zu arbeiten.
Theoretisch hat sie recht. Ich müsste nur meinen Stolz und meine Wut überwinden und ich könnte auf das fette Treuhandkonto zugreifen, das mein Vater mir hinterlassen hat.
Ich will sein scheiß Geld nicht. Möge er in der Hölle schmoren. Ich kann für mich selbst sorgen. So hat er es doch gewollt.
Mein Magen gibt ein Grummeln von sich. Ich schlurfe aus dem Raum und umrunde, ohne das Licht anzuschalten, im Flur ein paar Kartons, die mitten im Weg stehen. Wow, ich wusste echt gar nicht, dass ich so großartige Nachtsichtaugen habe! In der Küche öffne ich den Kühlschrank und starre den Inhalt an.
Ein Blumenkohlkopf, den Lennart vor zwei Wochen in einem Anfall von Ich-muss-endlich-gesünder-leben gekauft hat. Ein halber Gouda, der kurz davor steht, ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln. Ein Karton mit Resten einer vegetarischen Pizza Diavolo mit extra Knoblauch. Ein paar Dosen Bier, ein paar Flaschen Wein. Schokoladenpudding.
Plötzlicher Ekel steigt in mir auf und ich werfe die Tür zu. Seltsam, eigentlich bin ich verrückt nach Pizza, egal ob kalt oder warm. Aber jetzt dreht mir schon der Anblick den Magen um. Ich öffne den Kühlschrank erneut und schaue in das Gefrierfach. Pommes, Pommes und Pommes. Wieder krampfen sich meine Eingeweide unangenehm zusammen. Sehr komisch, denn Pommes sind ein fester Bestandteil meiner zugegebenermaßen nicht sonderlich ausgewogenen Ernährung. Pommes gehen immer. In der Rangliste meiner Lieblingsspeisen kommen knusprige Pommes Rot-Weiß gleich nach der Veggie-Pizza Diavolo von Immer Pizza am Hauptbahnhof. In einer gerechten Welt wäre ich fett und unsportlich. Aber ich habe anscheinend gute Gene; mein Körper ist durchaus ansehnlich. Das sage nicht ich, das sagen die Frauen, mit denen ich ins Bett steige.
Hungrig öffne ich noch einmal den Kühlschrank und entdecke hinter dem Blumenkohl ein Pfund Gehacktes halb und halb vom Discounter. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist seit zwei Wochen überschritten, die rote Flüssigkeit in der Schale zu einer dunklen Kruste getrocknet. Vage erinnere ich mich, dass Lennart etwas von einem Low Carb-Blumenkohlauflauf mit Hackfleisch gesagt hat. Für sich, nicht für mich. Wenn ich Hunger habe, könne ich ja auf die Weide gehen, sagt Lennart.
Ich bin Vegetarier. Schon als Kind hatte ich Mitleid mit den hilflosen Tieren, die monatelang eingepfercht und gemästet werden, nur um dann als mittelmäßige Bolognese mit Fertigwürze aus der Tüte in einer Männer-WG zu enden.
Weil ich weiß, dass es Lennart auf die Palme bringt, kaufe ich manchmal künstlichen Fleischersatz von der perfiden Lebensmittelindustrie: Soja-Bratwürste, Chicken-Nuggets aus Erbsenprotein und so weiter. Schmeckt hin und wieder sogar richtig gut. Lennart behauptet, dass die Elite das Zeug nur auf den Markt gebracht hat, um die Bürger zu willenlosen Konsumenten abzurichten, die sich über die Ernährung ruhigstellen, fernsteuern, vergiften lassen. Oder so ähnlich. Mir ist es egal, ob er mich für ein Schlafschaf hält. Ich esse keine traurige Kuh und kein verzweifeltes Schwein. Basta.
Aber jetzt starre ich auf dieses stinkende Hackfleisch in seiner Plastikschale, als hätte ich nie etwas Köstlicheres gesehen. Ich beginne zu sabbern. Mein Magen knurrt laut bei der Vorstellung, wie ich meine Zähne in diesen matschigen rohen Fleischklumpen schlage. Mein Kopf dröhnt, als würde in meinem Schädel eine Marschkapelle für den nächsten Auftritt proben. Meine Finger zucken und zittern.
Hat Lennart womöglich recht mit seinen Theorien und ich habe einen Chemtrail eingeatmet?
Die Konturen der Einbauküche tanzen vor meinen Augen. Ich drehe den Wasserhahn auf (der mit Lennarts selbstgebautem Filter versehen ist), fülle ein Glas mit Leitungswasser, trinke es – und spucke es in hohem Bogen gegen die Wand.
Schmerzhafte Krämpfe pressen meinen Magen zusammen, ich muss mich an der Arbeitsplatte festhalten, kalter Schweiß läuft über meine Stirn. Habe ich mir in dem Staub unter meinem Bett irgendeine tödliche Krankheit eingefangen?
Will ich das überhaupt wissen?
Richtig krank war ich noch nie, abgesehen von Kopfschmerzen nach einem Kater. Gut, manchmal wache ich in einem fremden Bett auf – mit Betonung auf in dem Bett. Nicht darunter. Üblicherweise neben einer Frau, an deren Haut noch mein Geruch samt einiger Körperflüssigkeiten klebt. Vielleicht kann ich mich nicht mehr an ihren Namen erinnern, aber ich weiß immer, wie ich in diesem Bett gelandet bin. Auch, was wir in welcher Stellung getrieben haben, habe ich noch sehr detailliert im Gedächtnis.
Egal. Sobald die Praxis öffnet, gehe ich zum Arzt und lasse mich krankschreiben. Die Schlegel sollte mir dankbar sein, dass ich nicht mit einer ansteckenden Krankheit ins Callcenter komme.
Erst jetzt fällt mir auf, dass meine Hände schmutzig sind. Meine Klamotten sehen aus, als hätte ich mit einem Stier gekämpft und verloren. Die schwarze Jeans ist an den Knien zerrissen, das T-Shirt kaputt und fleckig. Ich schnuppere an meiner Achselhöhle und rümpfe die Nase. Habe ich mich im Dreck gewälzt? Man könnte meinen, dass ich seit Tagen nicht geduscht hätte.
Mir geht es eindeutig gar nicht gut. Ich wanke zurück in mein Zimmer und suche mein Handy. Es liegt unter dem Kopfkissen und der Akku ist leer. Ich weiß genau, dass ich es erst gestern Abend aufgeladen habe.
Verwirrt stöpsele ich es ans Ladekabel und schlurfe ins Wohnzimmer, wo ich mich schwer auf das Sofa fallen lasse und nach der Fernbedienung für den altmodischen Röhrenfernseher greife. Flatscreens sind laut Lennart des Teufels willige Werkzeuge. Sie geben angeblich Strahlung ab und machen das Gehirn matschig. Ich würde ja behaupten, dass das an der Qualität der Sendungen liegen könnte, aber was weiß ich schon? Zu meiner Erleichterung liegt die Fernbedienung dort, wo sie sein soll, nämlich auf der umgedrehten Weinkiste, die uns als Beistelltisch dient. Kurz lausche ich in die stille Wohnung und höre Lennarts leises Schnarchen aus seinem Zimmer. Aber so leise kann es doch gar nicht sein, wenn ich es durch die dicken Altbauwände und die geschlossene Tür hören kann, oder? Jetzt dringen auch andere Geräusche an mein Ohr, die ich vorher nie wahrgenommen habe. Sie kommen aus den Wohnungen über und unter uns. Das Rascheln von Stroh in einem Hamsterkäfig, schläfriges Murmeln aus einem Ehebett, ein Hund, der sich in seinem Körbchen umdreht. Mir ist bisher nie aufgefallen, wie hellhörig unser Haus ist.
Ich schalte den Fernseher ein und regle die Lautstärke herunter. Die Moderatorin von Steenport TV sagt fröhlich: » …steht zurzeit noch nicht fest, ob es sich bei dem gesichteten Tier um einen streunenden Hund oder einen echten Wolf handelt. Es kommt äußerst selten vor, dass Wölfe sich in Städte wagen. Normalerweise halten sie sich von Menschen fern, es sei denn, sie sind mit Tollwut infiziert. Halten Sie also beim Gassigehen Ihren Hund an der Leine, bis das Tier eingefangen wurde!« Gleich darauf wird ihre Miene todernst. »Und nun zu einem schrecklichen Thema: Der Schlächter von Steenport hat wieder zugeschlagen.«
Ein Video wird eingeblendet. BRUTALER MORD IM VERGNÜGUNGSVIERTEL! steht in dicken Lettern am unteren Bildschirmrand. Rotweißes Flatterband vor einer Häuserzeile, flackerndes Blaulicht. Trotz der frühen Morgenstunde drängen sich Neugierige an der Absperrung; Clubgänger und graugesichtige Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Die Kamera zoomt auf unregelmäßige Markierungen auf den Asphalt, wo dunkle Flecken zu sehen sind. Mein Magen grollt schmerzhaft. Eine verrückte Vorstellung blitzt in mir auf, wie ich mit der Zunge über den schmutzigen Boden fahre und salziges Kupfer schmecke.
Du hast akuten Eisenmangel, sagt der nüchterne Teil meines Verstandes. Ein anderer Teil schreit: Hilfe, ich werde verrückt!
»Gestern Morgen machten Passanten eine furchtbare Entdeckung«, sagt die Moderatorin mit angemessen düsterem Tonfall. »Wieder ist in unserer Stadt eine junge Frau einem grausamen Mord zum Opfer gefallen. Und noch immer ist die Polizei nicht bereit, von einem Serienmörder zu sprechen. Bisher weise nichts auf einen Einzeltäter hin, hieß es auf der letzten Pressekonferenz. Der Sprecher der Organisation Freie Allianz des Nordens bezichtigte die Polizei in einem Statement öffentlich der Untätigkeit und beklagte, dass die Sicherheit der Bürger offenbar keine Priorität mehr habe.«
Ich starre wie hypnotisiert auf den Bildschirm und wünsche mir, dass sie noch einmal, nur noch ein einziges Mal bitte, die getrocknete Blutpfütze zeigen sollen.
Steenport ist berühmt für einen der größten Frachthäfen der Welt, für das schillernde Vergnügungsviertel und den malerischen historischen Hafen, aber auch für seine Gewalt. Hier toben Bandenkriege, hier werden Kneipengänger mit der Bierflasche erschlagen oder Touristen von verzweifelten Junkies für einen Zwanziger ermordet. Hin und wieder zieht ein Fischer eine Leiche aus dem Wasser oder jemand stolpert auf dem Heimweg über einen kalten Körper.
Mein Leben lang habe ich es geschafft, die gefährliche Seite von Steenport auszublenden. Ich liebe die Großstadt mit all ihren Abenteuern und Möglichkeiten. Vor allem liebe ich die hübschen jungen Frauen, die Lust auf einen heißen One-Night-Stand mit einem leichtlebigen Typen haben.
Mein Geschichtsstudium habe ich nach drei Semestern geschmissen. Als mein Vater mir kurz nach dem Tod meiner Mutter eröffnete, dass er Steenport verlassen wird, sah ich keine Veranlassung mehr, ihn stolz zu machen. Ich war vollends damit beschäftigt, um meine Mutter zu trauern und mich von ihm im Stich gelassen zu fühlen. Mein Vater hat mich mit seiner Leidenschaft für Geschichte angesteckt, als ich noch ein kleiner Junge war, und er hat diese Leidenschaft wieder mitgenommen.
Der Job im Callcenter wird nicht gut bezahlt und auf Partys kann man damit auch keinen Eindruck schinden, aber ich komme zurecht, vielen Dank. Die Mädels gehen wegen meines Familiennamens automatisch davon aus, dass ich reich bin. Ich werde den Teufel tun und den Irrtum aufklären; ich will bloß Sex haben. Wir verbringen eine wilde Nacht miteinander, dann mache ich mich aus dem Staub, bevor es kompliziert wird. Längere Beziehungen kommen für mich nicht infrage. Mein Leben ist gut so, wie es ist. Ich will keiner Frau erklären müssen, warum ich mein Treuhandvermögen nicht anrühre, um sie zum Luxusurlaub auf Bali einzuladen, oder warum ich mit meiner mächtigen adligen Familie nichts zu tun haben möchte.
Ich will nur meine Ruhe haben und ab und zu eine Veggie-Pizza Diavolo von Immer Pizza am Hauptbahnhof. Ich nehme sie immer mit extra Knoblauch.
Jetzt aber zieht sich mein Magen schon beim Gedanken an Pizza krampfartig zusammen. Habe ich gestern auf dem Heimweg etwas Schlechtes gegessen, vielleicht diese komische Kohlsuppe beim Vietnamesen, von der ich genau weiß, dass ich davon Bauchschmerzen bekomme?
Nein, es war ein Falafel-Döner mit scharfer Sauce in dem neuen Laden zwei Straßen weiter. Hat ganz gut geschmeckt, war aber keine Offenbarung. Eine solide 6 von 10 auf meiner persönlichen Imbiss-Rangliste.
Trotzdem habe ich jetzt Hunger. Einen quälenden Mordshunger, der meine Muskeln weich werden lässt und meine Gedanken vernebelt. Wie hypnotisiert starre ich auf den Bildschirm, wo die Kamera noch einmal in Zeitlupe all die dunklen Flecken auf dem Asphalt zeigt, bevor sie auf zwei Männer im Overall zoomt, die gerade eine Bahre mit einem Leichensack in das Heck des Transporters der Gerichtsmedizin heben.
»Die Sicherheit in unserer Stadt wird auch eines der Hauptthemen auf dem ersten Parteitag der Freien Allianz des Nordens sein«, sagt die Moderatorin jetzt. »Die neu gegründete Partei hat bereits durch ihr radikales Auftreten und ihre provokanten Äußerungen von sich reden gemacht …«
Ich zappe mich durch die Programme, bis ich eine angenehm langweilige Sitcom aus den Neunzigern gefunden habe. Begleitet vom blechernen Lachen eines unsichtbaren Publikums schlafe ich ein.