DER WOLF IN MEINER KÜCHE
Mitten in der Nacht erwache ich von einem Geräusch, das ich mir womöglich eingebildet habe.
Natürlich habe ich das, ich bin ja Autorin und bilde mir ständig etwas ein. Daher weiß ich auch, dass alles, was ich mir einbilde, auf gewisse Weise doch real ist.
Ohne meinen Männe zu wecken, klettere ich aus dem Bett, ziehe mir das Erstbeste über, das ich finden kann, und tapse die Treppe hinunter. Aus der Küche kommt ein schwacher Lichtschein. Jemand öffnet und schließt Türen und Schubladen.
Einbrecher!
Sofort schnappe ich mir in der Diele einen Gummistiefel, der unter der Garderobe steht, und schleiche leise-leise auf das Licht zu.
»Habt ihr keinen Kaffee in diesem Haus?«, knurrt Jules und schließt die eine Schranktür, um sofort die nächste zu öffnen.
»In der grünen Teedose«, sage ich, den Gummistiefel drohend erhoben. »Was machst du hier?«
»Ich suche den verfickten Kaffee … Ah, da ist er ja.« Er entdeckt die altmodische Teedose und dreht sich zu mir um. Eine Augenbraue wandert in die Höhe. »Bedrohst du mich etwa mit diesem Gummistiefel?«
»Ja, das tu ich. An der Sohle klebt sogar Pferdekacke. Siehst du?« Ich wedle mit meiner Waffe.
»Jetzt bin ich aber eingeschüchtert.« Kopfschüttelnd wendet er sich meinem nagelneuen Kaffeevollautomaten zu und schaltet ihn an. Brummend erwacht das Ding zum Leben, kleine rote Lichter blinken, während das Wasser aufgeheizt wird.
»Ich hasse diese lahmarschigen Apparate«, murmelt er und nimmt eine Tasse aus dem Schrank. »In der Zeit, die sie brauchen, um einen Kaffee zu fabrizieren, kann ich die Bohnen persönlich in Kolumbien pflücken und gleich noch ein paar Kilo Kokain eintüten.« Er liest die Aufschrift auf dem Kaffeebecher und hält ihn mir vorwurfsvoll entgegen. »Ist dieser Spruch etwa von mir?«
Schicksal ist etwas, das anderen Menschen zustößt.
Manchmal in Form von mir.
Ich mag diese Tasse. Sie hat ein wunderschönes blau-lilafarbenes Design und einen knackigen Spruch (und gehört zu der neuen exklusiven Buchbox mit den beiden Prints von DER WOLF, der geilen neuen Wolfskette und natürlich einem Zauberwürfel. *Werbung Ende*)
»Ja, ist er!«, schnauze ich. »Und jetzt verschwinde aus meinem Haus!«
»Hast du ein Problem mit mir, Frautorin?« Ungerührt stellt er den Becher unter den Kaffeeauslauf und sieht den Lichtern beim Blinken zu, während der Apparat sich weiterhin im Schneckentempo aufheizt.
»Ob ich …? Du dürftest gar nicht hier sein! Du existierst ja nicht einmal!« Ich lasse den Gummistiefel sinken. Gegen Kopfgeburten nützt er ebenso wenig wie gegen waschechte Psychopathen.
O Gott, ich habe einen schwerstkriminellen Psycho im Haus!
»Guck mich nicht so an, als wollte ich dir das Herz mit einem Löffel rausschälen.« Er mustert mich von oben bis unten und grinst. »Du empfängst mich ernsthaft in einem Daisy Duck-Schlafanzug und einem Cheers, Motherfucker-Hoodie? Was zum Henker stimmt mit dir nicht?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen. Du solltest jetzt in der Nornenburg bei Trix sein und … tun, was auch immer du so tust. Menschen ausweiden oder so.« Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen. »Mach mir bitte auch einen Kaffee. Ich muss mich vergewissern, dass ich wach bin.«
»Ich könnte dir deinen dreckigen Gummistiefel um die Ohren hauen«, bietet er an. »Dann weißt du, dass du nicht träumst. Wo ist der Salzstreuer?«
Ich erinnere mich, dass Trix ihren Kaffee mit einer Prise Salz verfeinert und Jules diese Angewohnheit übernommen hat. Matt deute ich auf die Salzmühle. »Du bist hoffentlich nicht hergekommen, um dich über deine Geschichte zu beschweren. Immerhin ist sie gut für dich ausgegangen. Verdammt gut sogar, dafür, dass du ein …« Ich breche ab, bevor ich mich um Kopf und Kragen rede.
»Sprich es ruhig aus: Ich bin ein verdammter Psychopath. Mordlüstern, gewalttätig, unkontrollierbar und leider viel zu schlau für den Rest der Welt.« Die Maschine sprotzt und faucht und lässt ein dünnes Rinnsal aus Kaffee in die Tasse laufen. Missbilligend verzieht Jules das Gesicht. »Wenn Kaffee ein lebensrettendes Medikament wäre, dann wäre ich jetzt tot. Das dauert ja ewig.«
»Dafür schmeckt er. Glaube ich. Der Verkäufer hat es jedenfalls behauptet, als er mir ein Vermögen für das Mistding abgeknöpft hat. Also muss ich fest davon überzeugt sein, dass das stimmt, sonst lacht mein Männe mich aus. Tut er zwar sowieso, aber … Was ich sagen will: Solange Koffein unten rauskommt, bin ich glücklich.«
Man merkt: In der Gegenwart von gefährlichen Psychos neige ich zum Plappern.
Sorgfältig rührt er eine Prise Salz unter und setzt sich mir gegenüber an den Tisch.
»Danke, dass du auch an mich gedacht hast«, sage ich spitz.
»Eigentlich solltest du mir einen Kaffee servieren. Das nennt sich Gastfreundschaft.«
»Ich habe dich nicht eingeladen.«
»Jetzt werde mal nicht spitzfindig. Im Übrigen ist dein Kaffeeautomat kaputt.« Er deutet über die Schulter und tatsächlich leuchtet im Display eine dramatische Fehlermeldung: Selbstzerstörungsmodus aktiviert in 5, 4, 3 … oder so ähnlich. Wie gesagt bin ich noch nicht ganz wach.
Jules nimmt einen Schluck und schließt übertrieben genießerisch die Augen. »Dieser Kaffee ist großartig. Schade, dass es keinen mehr für dich geben wird.«
„Das hört sich an wie eine Todesdrohung. Du bist hoffentlich nicht hergekommen, um dafür zu sorgen, dass ich keine weiteren Bücher über dich schreibe.“
Er beugt sich vor und plötzlich sehe ich hinter den klaren blauen Augen die berühmte Dunkelheit, aus der seine Seele besteht. Sie hat die Kontur eines Wolfes, das weiß ich mittlerweile, und ist doch ein Mensch. »Lass uns über mich reden«, sagt er ernst. »Ich weiß, dass noch Fragen offen sind.«
»Äh, wir können uns auch über das Wetter unterhalten. Dieser Sommer war ja wirklich ein Reinfall, findest du nicht? Ständig nur Regen und überall wimmelte es von Nacktschnecken. Sie haben all meine Salatköpfe aufgefr…«
»Versuch es mit Dynamit. Damit wirst du jede Schnecke im Umkreis von einem Kilometer los. Zurück zum Thema. Was weißt du über Typen wie mich?«
Ich kenne Jules gut genug, um zu wissen, dass das keine rhetorische Frage ist. Also zähle ich auf: »Du hältst dich nicht an allgemeingültige moralische Regeln. Du willst kein Teil der Gesellschaft sein … der anständigen, bürgerlichen Gesellschaft. Du empfindest nicht das kleinste Mitgefühl, wenn du jemanden etwas antust. Und du tust Menschen so einiges an. Du bist sehr geschickt darin, Harmlosigkeit vorzutäuschen.«
»Ich war gut darin.« Er rümpft die Nase. »Dank dir weiß jetzt jeder, was in meinem Kopf vorgeht. Du hast mich zu einem verdammten Freak gemacht!«
»Hab ich nicht! Ich wusste doch selbst nicht, dass ich es mit einem Sadisten allererster Güte zu tun bekomme!«
»Ich bin kein Sadist, sondern ein Psychopath. Das ist ein kleiner, aber bedeutender Unterschied, Frautorin.«
Ich zucke mit den Schultern und raffe mich auf, um den Wasserkocher anzustellen und mir einen Tee aufzubrühen. »Hat eines deiner Opfer jemals gefragt: Entschuldigen Sie, aber bevor Sie mit dem Foltern anfangen, wüsste ich gern, ob Sie ein Sadist oder ein Psycho sind?« Im Schrank entdecke ich eine zerknitterte Packung Pfefferminztee in Beuteln. Abgelaufen im Juni 1998. Sieht aus wie grüner Staub. Frenchman würde mich für diese Blasphemie teeren und federn.
Ja, als Autorin balanciert man stets am Rande des Todes.
Jules lässt sein berühmtes Lächeln aufblitzen, das einen glauben lässt, er sei ja doch eigentlich ein ganz sympathischer …
»Sadisten quälen aus Lustgewinn«, sagt er. »Psychopathen quälen, weil sie gerade nichts Besseres zu tun haben. Sozusagen. Oder weil sie sich einen Vorteil davon versprechen.« Er räuspert sich. »Psychopathen sind empathielos. Sie haben höchstens ein klinisches Interesse an dem, was sie tun, zum Beispiel daran, jemandem mit der Rosenschere einen Daumen abzutrennen. Wie scharf müssen die Schneiden sein, damit es einen sauberen Schnitt gibt? Wie laut kann das Opfer brüllen? Ist ein Leben ohne zwei Daumen überhaupt möglich?« Er hebt seine Kaffeetasse an und prostet mir zu, wobei er mit dem Daumen wackelt. »Warum schreibst du darüber nicht mal ein Buch? Du könntest sogar eigene Erfahrungen mit einfließen lassen, wenn du mich nett bittest, meine Rosenschere mitzubringen. Zum Schreiben braucht man nicht zwingend Daumen.«
»Sehr witzig«, brumme ich und verstecke meine beiden Daumen in der Faust. Was blöd ist, denn jetzt kann ich nicht meine Teetasse ergreifen. Das Leben steckt voller unverhersehbarer Komplikationen. Aber ich hänge an meinen Daumen, im wahrsten Sinne. Es sind sehr hübsche Daumen.
»Psychopathen sind skrupellos in der Verfolgung ihrer Ziele. Sie empfinden kein Mitgefühl, keine Schuld, weisen eine hohe Furchtlosigkeit und eine starke Belastbarkeit auf, stehen gern im Mittelpunkt und besitzen eine hohe Persuasivität und immensen Charme. Das ist nicht von mir, sondern wissenschaftlich belegt.«
Und es beschreibt Jules ziemlich perfekt.
»Ich erinnere mich an diese Checkliste, die der Kriminalpsychologe Robert D. Hare entwickelt hat«, sage ich. „Die Hare-Skala, anhand derer man einen Psychopathen erkennt. Unter anderem hat er folgende Merkmale aufgeführt …« Ich muss kurz nachdenken. »Sprachgewandter Blender, ständiges Gefühl der Langeweile und starker Erlebnishunger, Mangel an Gewissensbissen, manipulatives Verhalten, Gefühlskälte und parasitärer Lebensstil.«
»Wow, ich bin also ein Parasit.“
„Du gehörst zum organisierten Verbrechen. Und das ist nun mal nicht für seine Selbstlosigkeit berühmt.“
„Das meiste trifft auf mich zu, aber eben nicht alles. Ich muss ja nur an Trix denken und weiß genau, dass Gefühlskälte absolut nicht mein Problem ist. Nicht mehr. Was sie mit mir anstellt …« Er bricht ab und schaut an mir vorbei.
»Du siehst aus wie ein verliebter Junge«, frotzele ich. »Echt süß.«
»Und du weißt, was mit Leuten geschieht, die mich süß nennen.«
»Ich darf das. Wenn du mich bedrohst, lasse ich dich im nächsten Roman sterben. So.« Ich verschränke die Arme. »Was willst du dagegen machen?«
Er lächelt unheilvoll. »Ganz einfach: Ich lasse dich vorher sterben.«
»Das kannst du nicht. Du bist nicht real«, sagte ich, aber bin ich davon wirklich überzeugt? Schließlich sitzt er genau jetzt in meiner Küche und hat diesen Wir beide müssen ein paar Dinge klären-Gesichtsausdruck aufgesetzt, der mir einen Schauder über das Genick jagt.
Offenbar kann er meine Gedanken lesen, denn er nickt zufrieden. »Entgegen landläufiger Meinung sind Psychopathen nicht immer Serienmörder oder Schwerstkriminelle. Sie müssen nicht zwangsläufig schlimme Dinge tun.«
»Warum tun sie es dann?«
»Ah.« Er hebt einen Finger. »Das ist die große Frage dieser Nacht. Ich würde sagen, das hängt davon ab, wie stark der Grad ihrer Psychopathie ist. Rein medizinisch gesehen handelt es sich nicht um eine psychische Störung, sondern um ein komplexes, mehrdimensionales Persönlichkeitskonstrukt«, sagt er und seufzt. »Auch wenn gewisse Leute das anders sehen.«
»Du meinst deine Freunde.«
»Ach, die haben sich längst an meine Schrullen gewöhnt. Aber Leute wie du haben sofort ein Bild von Hannibal Lecter mit blutverschmiertem Mund vor Augen. Guck mich nicht so an!»
»Das könnte daran liegen, dass das Töten von Menschen nicht unbedingt eine Schrulle ist, sondern Mord.«
»Niemand mag Klugscheißer, meine Liebe.« Er räuspert sich. »Manche Psychopathen haben auch sadistische Neigungen, aber nicht alle Sadisten sind Psychopathen. Klar soweit?«
Nein, denke ich und sage: »Klar.«
»Kluge Psychos – Typen wie ich – wissen ihre zweifelhaften Talente nützlich zu verwenden. Man nennt sie die furchtlosen Dominanten, während die richtig, richtig Durchgeknallten als egozentrisch Impulsive beschrieben werden. Es gibt also gute und schlechte Psychopathen.«
»Du bist nicht gut.«
Er rümpft die Nase. »Das solltest du mit Trix ausdiskutieren. Sie ist nämlich anderer Meinung, sonst würden wir beide jetzt nicht friedlich hier sitzen …«
»Mitten in der Nacht«, murmle ich mit einem Blick zur Küchenuhr und gähne.
»… und so angeregt plaudern. Viele Psychopathen werden nie straffällig. Sie sind überaus erfolgreiche Geschäftsführer, Politiker, Anwälte, Chirurgen – mangelndes Mitgefühl kann immens hilfreich sein, wenn man am offenen Herzen operiert – und Polizisten.«
»Oder sie werden Gangsterboss.« Ich ziehe die Schultern hoch. »Eine gruselige Vorstellung, dass sowohl die Guten als auch die Bösen waschechte Psychos sein können.«
»Wir sind halt überall, meine Liebe.« Er leert seine Tasse und schubst sie über den Tisch in meine Richtung. »Ich hätte gern noch einen Kaffee.«
Ja, ich auch. Danke sehr. »Geht nicht. Die Kaffeemaschine ist kaputt. Deine Anwesenheit hat ihr einen Herzinfarkt beschert und sie ist lautlos implodiert.« Mein Tee schmeckt wie erwartet nach Staub mit einem Hauch von Pfefferminz.
»Ich nehme auch einen guten Whisky.«
»Hab keinen.«
»Ernsthaft? Ihr Autoren bunkert doch immer irgendwo ein paar Flaschen Alkohol, um eure Schreibblockaden zu überwinden.« Missbilligend schaut er sich in unserer knuffigen Landhausküche um. »Nicht mal ein paar Gramm Koks?«
»Puderzucker hätte ich wohl da«, sagte ich. »Und Zitronen-Gurke-Limonade mit Ingwer. Selbstgemacht.«
»Ach, aber mich bezeichnest du als Psycho! Wer zum Henker trinkt so einen Scheiß?« Er winkt ab. »Schon gut. Das war eine rhetorische Frage.«
»Sie ist sehr lecker«, sage ich eingeschnappt.
»Das ist Whisky auch. Okay, lass uns über Sadisten reden.«
»Warum? Ich will zurück ins Bett.«
»Ich bin extra hergekommen, um mich mit dir zu unterhalten, also zeig gefälligst etwas Enthusiasmus! Im Morgengrauen muss ich zurück in Steenport sein, bevor Trix auf die Idee kommt, mich zu suchen. Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen um mich macht. Das tut sie nämlich.«
Er klingt stolz. Wie süß! Beinahe hätte ich geseufzt.
»Zwar habe ich am Abend noch dafür gesorgt, dass sie vor Erschöpfung kaum noch aufstehen konnte – ich liebe es, wenn ihre Haut vom Schweiß glänzt! –, aber du weißt ja, wie zäh sie ist. Und sie hat diesen siebten Sinn, für den ihr Frauen berüchtigt seid. Sie soll nicht auf die Idee kommen, dass ich mit einer anderen … Bist du überhaupt eine normale Frau?« Wieder mustert er mein Outfit. Vermutlich stehen meine Haare in alle Richtungen ab.
»Ich bin sogar vergeben«, sage ich würdevoll.
»Es gibt tatsächlich jemanden, der es mit dir aushält? Das nenne ich mal masochistisch.« Er grinst anzüglich. »Oder bist womöglich du eine Sadistin? Sadisten baden bekanntermaßen im Leid ihres Opfers. Es gibt ihnen einen Wahnsinnskick. Sie genießen den Schmerz, den sie beim anderen hervorrufen. Sie können ihn durchaus nachvollziehen, aber natürlich würden sie das, was sie ihren Gespielinnen antun, nicht an sich selbst ausprobieren wollen. Psychopathen können auch Sadisten sein, aber Sadisten sind wie gesagt nicht zwangsläufig durchgeknallte Psychos. Andernfalls hätte die BDSM-Szene jede Menge Leichen zu entsorgen.« Wieder lächelt er völlig unpassend zu seinen Worten sein Scheinwerferlächeln. »Kurz gesagt: Nur weil jemand hobbymäßig einer Frau den Hintern mit einer Peitsche versohlt und anschließend einen Elektroschocker-Dildo in höchster Stufe an ihr ausprobiert, ist er noch lange kein Psychopath. Er bekommt nur anderweitig keinen hoch. Alles klar?«
»Sehr anschaulich, vielen Dank«, sagte ich.
»Olav zum Beispiel war ein lupenreiner Sadist. Und dumm wie Knäckebrot obendrein. Rosco weiß es nicht, aber Olav ist letztes Jahr mit Blake zusammengerasselt, weil er einige von Blakes Huren misshandelt hat, und zwar so richtig. Das letzte Mädchen ist auf der Intensivstation gelandet.« Jules’ Stimme wird hart. Vermutlich denkt er an die Szene im Keller des Domizils zurück, wo Olav sich über Trix hermachen wollte. »Blake hat sich an mich gewandt und ich habe mir Olav mal zur Brust genommen. Danach hat er einen Bogen um Blakes Etablissements gemacht und ist zum Night Market gefahren, um sich dort Huren zu besorgen. Ein Sadist wie Olav quält und schlägt und vergewaltigt und bohrt spitze Gegenstände in Körpern, weil er die Macht über einen anderen Menschen genießt, der ihm nicht gewachsen ist. Auf Konsens legt er persönlich keinen Wert. Gewalt macht ihn an. Für normalen Sex ist er längst zu abgestumpft.« Jules spitzt die Lippen. »War zu abgestumpft, sollte ich sagen. Um Sex zu haben, braucht man einen Schwanz. Der arme Olav hat leider keinen mehr.«
Ich schlucke und trinke hastig von meinem Staubtee. »Wo ist er jetzt?«
»Weit, weit weg von Steenport, wenn er einen Funken Verstand hat. Er hat sich für einen Alpha gehalten, aber Männer wie er haben keine Ahnung, was es bedeutet, ein Alpha zu sein.«
»Und was?«
»Jedenfalls nicht, auf dicke Hose zu machen und Gewalt anzuwenden. Es ist wie bei den Tieren: Ein Alpha beschützt sein Rudel und kümmert sich auch um die Schwächeren. Er übernimmt Verantwortung, egal, was es ihn kostet. Das ist Dominanz. Einer Frau den Hintern versohlen kann jeder hergelaufene Hubert.«
»Wo würdest du dich einsortieren? Sadist, Psychopath oder beides?«
Er lehnt sich zurück und schaut zur Decke hinauf, die auch mal wieder gestrichen werden müsste. »Ein Sadist bin ich nicht, auch wenn ich das lange Zeit von mir dachte. Menschen zu quälen und zu foltern, ist auf Dauer keine Herausforderung. Es ist so … so primitiv. Mit roher Gewalt bekommt man früher oder später jeden Menschen klein. Bei sexuellem Sadismus wird im Körper des Opfers so viel Adrenalin und körpereigenes Opiat ausgeschüttet, dass es regelrecht high wird und den Unterschied zwischen Schmerz und Lust nicht mehr erkennt. Eine ziemlich tolle Sache, nicht nur für masochistisch veranlagte Menschen.«
»Für dich nicht?«
Wieder lächelt er, diesmal eindeutig zweideutig. »Ich mag es, mit Trix zu spielen, daran wird sich nie etwas ändern. Inzwischen habe ich gelernt, meine … hm, Talente in die richtige Richtung zu lenken. Meine kleine Irrenanstalt ist in dieser Hinsicht sehr nützlich. Außerdem entwickelt sie sich zu einer wahren Goldgrube. Ich kann mich jetzt schon kaum vor Anfagen retten.« Er schließt kurz die Augen. »Mein ganz persönliches Bälleparadies.«
»Du weißt schon, wie das klingt, ja?«
»Verrückt? Na, so eine Überraschung«, sagt er leichthin.
»Wie kommt Trix damit zurecht, dass du … dass du bist, wie du bist?«
»Sie ist freiwillig mit mir nach Steenport zurückgekehrt, das sollte als Antwort reichen.« Er lacht leise und das kühle Blau seiner Augen bekommt einen warmen Schimmer. »Trix und ich probieren noch herum. Sie ist sehr lernbegierig. Wir raufen uns allmählich zusammen, und zwar so richtig. Ich glaube, sie ist glücklich. Das ist sie doch, oder?« Hier sieht er mich mit einem Ausdruck an, den ich überraschenderweise als Unsicherheit erkenne.
»Du kennst sie besser als ich, Jules.«
»Ja … Ich mache mir halt Gedanken …« Er kratzt sich am Kinn. »Psychopathen zeichnen sich auch durch eine hohe Furchtlosigkeit aus. Aber wenn ich mir vorstelle, dass Trix irgendwann nicht mehr da sein könnte … Allein die Vorstellung bringt mich innerlich um. Trix hält mich zusammen. Ohne sie würde das Gute in mir in tausend Splitter zerbrechen und der Wolf wäre frei. Ich brauche sie, das ist die nackte Wahrheit.«
»Du kommst hoffentlich nicht auf die Idee, ihr die Flügel zu stutzen und sie in einen goldenen Käfig zu sperren.«
»Danke, dass du mich für ein Arschloch hältst«, erwidert er trocken.
»Gib zu, dass du mit dem Gedanken gespielt hast.«
»Ein bisschen vielleicht«, brummt er und steht auf, um ins angrenzende Wohnzimmer zu schlendern. Lichter flammen auf. »Wo ist die verdammte Bar?«, höre ich ihn rufen. »Willst du mir ernsthaft weismachen, dass ihr keine Bar habt? Wie zum Teufel kannst du nüchtern bleiben, wenn du ständig über Typen wie mich schreibst?«
»Brüll noch lauter«, zische ich. »Unten im Dorf hat man dich nicht gehört.«
Ich lausche auf Geräusche aus dem Obergeschoss und überlege fieberhaft, was ich meinem Männe sagen soll, wenn er wach wird. Hey, darf ich dir meine Kopfgeburt vorstellen – Jules, den Psycho? Er hat schon massenhaft Menschenleben auf dem nicht vorhandenen Gewissen und er hätte gern einen Whisky.
Gott sei Dank bleibt alles ruhig. Der Hund ist sowieso taub – vor allem dann, wenn man Sitz! zu ihm sagt. Seltsamerweise hört er aber aus 100 Kilometern Entfernung das Öffnen einer Kekspackung.
Missmutig folge ich Jules mit meiner Tasse mit Pfefferminzstaubtee.
Er hat ein dickes Buch aus dem Regal gezogen und hält es hoch. Gewalt und Mitgefühl – Die Biologie des menschlichen Verhaltens von Robert Sapolsky. »Schau einer an. Ich hätte gewettet, dass du nur schnulzige Liebesromane mit halbnackten Highlandern auf dem Cover liest.«
»Tu ich auch, weil da wenigstens keine Fremdwörter drinstehen«, sage ich angepisst. »Dieser Wälzer dort hat nicht nur Kapitelüberschriften wie Grundlagen der Endokrinologie, sondern auch noch hundert Seiten an Anmerkungen und Quellenangaben in Mini-Winz-Schriftgröße!«
»Hört sich interessant an«, sagt er und ich fürchte, dass das sein Ernst ist. »Hoffentlich hast du es auch wirklich gelesen und nicht nur ins Regal gestellt, um klüger zu wirken. In dem Buch dürfte nämlich drinstehen, dass Personen mit herausragenden, gesellschaftlich anerkannten Leistungen – Firmengründer und so – die gleichen Eigenschaften besitzen wie antisoziale Schwerverbrecher: furchtlose Dominanz. Was, wie wir mittlerweile wissen, ein Merkmal der …«
»Psychopathie ist«, ergänze ich unmutig. »Aber warum wird der eine ein Schwerkrimineller und der andere nicht?«
»Intelligenz und Sozialisation«, antwortet Jules beiläufig, während er durch das Buch blättert. »Auch Psychos haben Eltern. Sind es gute, liebevolle Eltern, dann ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass ihr Sprössling seine Kindergartenkumpel mit Nadeln piekt und anfängt, kleine Katzen zu quälen. Er lernt, sich an moralische Regeln zu halten, niemandem wehzutun und ein Teil der Gesellschaft zu sein. Hat man dagegen Iron Charlie zum Vater, sieht die Sache schon anders aus. Der Mann schiss auf die Gesellschaft. Er war der Mittelpunkt seiner eigenen Welt und alle anderen Menschen entweder nützlich oder entbehrlich.«
»Er war dein erstes Opfer, nicht wahr?« Ich schlurfe zum Kamin und stochere in der noch immer schwelenden Glut herum. »Wie hast du es gemacht?«
»Das weißt du nicht?« Überrascht hält er inne.
»Ich bin bloß eine kleine Autorin, keine Hellseherin. Manchmal seid ihr Charaktere ganz schön zurückhaltend mit Informationen.« Ich lege zwei dünne Scheite in die Glut und sehe zu, wie sie Feuer fangen.
Jules lässt sich mit dem Wälzer in einen Sessel fallen und streckte die Beine von sich. Er deutete auf den anderen Sessel. »Mach’s dir ruhig bequem«, sagt er, als wäre das hier sein Haus.
»Soll ich vorher noch ein paar Hors d’œuvre servieren?«
»Das wäre sehr aufmerksam von dir. Seit Trix bei mir ist, verbrauche ich aus einem unerfindlichen Grund mehr Energie. Sie hält mich ganz schön auf Trab.« Mit verlegenem Grinsen reibt er sich über die Nase. »Aber nicht nur körperlich, verstehst du? Das Ganze ist noch ungewohnt für mich. Ich denke ziemlich viel nach. Über unsere gemeinsame Zukunft, ihre Gefühle, ihre Grenzen … Es ist aufregend, mit ihr zusammen zu sein. Zu wissen, dass sie da ist – bei mir. Dass wir beide jetzt eins sind. Ein richtiges Paar. Dass sie meine dunkelsten Geheimnisse kennt und mir trotzdem zutiefst vertraut.« Er schüttelt den Kopf. »Schon verrückt.«
»Und so süß. Hach.« Ich seufze verklärt.
»Sag noch einmal dieses Wort und ich werde dir Gewalt und Mitgefühl an den Kopf werfen.« Er wedelt mit dem fetten Schmöker. Ich kenne Jules gut genug, um zu wissen, dass er keine leeren Drohungen von sich gibt.
»Iron Charlie«, sage ich, um zurück zum Thema zu kommen. »Wie hast du es … ähm, gemacht? Und warum wurdest du nicht verdächtigt? Immerhin hat er deine Mutter ermordet.«
Er lässt das Buch auf die Bodendielen fallen. Der Laut hallt dumpf durchs Haus und wieder lausche ich angestrengt, ob Schritte auf der Treppe zu hören sind. Es bleibt friedlich. Erleichtert lehne ich mich zurück, als Jules auch schon zu sprechen beginnt …
***
Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte und erfuhr, dass Cassie verkauft worden ist, drehte ich bekanntermaßen ein bisschen durch. Also … möglicherweise habe ich Fish halb tot geprügelt. Mein Vater fand meinen Ausbruch amüsant. Er hat Fish nicht eine Träne nachgeweint, obwohl der schon ewig für ihn gearbeitet hat. Meine Mutter hatte unsere kleine Bude unter dem Dach des Bordells verlassen und in die Räume meines Vaters einziehen müssen. Ich durfte sie nicht sehen. Sie kam nicht heraus, nicht mal zum Arbeiten. Er hielt sie in seinen Zimmern gefangen und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er mit ihr anstellte. Die Tür war abgeschlossen und im Flur hatte Iron Charlie eine Kamera installiert. Er traute mir nicht, aber er würde mich auch nicht gehenlassen. Vielleicht glaubte er, mich gebrochen zu haben. Vielleicht hatte ich mit meiner Attacke auf Fish aber auch bewiesen, dass ich genauso tickte wie er. So oder so, ich hätte meine Mutter nicht im Stich gelassen.
Jeden Tag fragte ich Larry, Bobby oder den neuen, der Fish ersetzt hatte – er nannte sich Freak und der Name war Programm –, wie es ihr ging. Sie konnten mir nichts sagen oder sie wagten es nicht.
Anfangs erledigte ich nur Idiotenjobs für meinen Vater – ich musste ihm Kaffee bringen, seinen Papierkram in Ordnung halten und so –, aber als ich die Krücken nicht mehr benötigte, wurde ich wieder als Aufpasser eingesetzt. Ich hielt den Mund geschlossen und den Kopf unten, während der Zorn von Tag zu Tag stärker in mir gärte. Aber mein Vater wurde mir gegenüber immer entspannter. Er erklärte mir, wie der Menschenhandel ablief, wie man die Frauen am besten gefügig machte. »Schlag ihnen in die Nieren, das tut wichtig weh und hinterlässt keine Spuren«, sagte er stets. »Es färbt höchstens ihre Pisse rot.« Das fand er so witzig, dass er jedes Mal in Lachen ausbrach.
Wir hatten ein paar junge Frauen im Haus, die permanent unter Rücken- und Nierenschmerzen litten wegen Iron Charlies Disziplinierungsmaßnahmen. Er hatte einen mächtig harten Faustschlag drauf und hielt sich bei Frauen grundsätzlich nicht zurück.
Nach und nach zog er mich tiefer in sein Geschäft hinein. Ich musste bei Verkaufsverhandlungen dabei sein, wo er mich als seinen Sohn vorstellte. Das bereitete mir jedes Mal Übelkeit, denn ich sah, was die Leute dachten: Ist er genau so verrückt wie sein alter Herr? Er schickte mich mit, wenn Bruno und seine Jungs die Ware auslieferten – so nannte er die Frauen, die er verkauft hatte. Ich musste dabei sein, wenn er neue Ware in Empfang nahm und ausgiebig testete. Meist handelte es sich um Ausreißerinnen oder um junge Frauen, die in einem Club nicht ihr Getränk im Auge behalten hatten. Letztere wurden schnellstmöglich weiterverkauft, während die Ausreißerinnen im Treibhaus anschaffen durften.
Ich versuchte, mich nicht zu sehr zu korrumpieren zu lassen, aber ich spürte, wie das Gift von Iron Charlie unmerklich in mich hineinkroch und seine Wirkung tat. Ich wurde kälter, zynischer, gewissenloser. Aber ich fragte immer noch regelmäßig nach meiner Mutter. Ohne Erfolg. Sie saß hinter gefangen hinter der verriegelten Tür und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie es ihr ging.
Bis sie eines Abends wieder zur Arbeit erschien.
Ich entdeckte sie an der Bar, wo sie in aufreizender Wäsche zusammen mit den anderen Frauen auf einen Freier wartete. Mein aufkeimendes Lächeln erstarb, als ich auf sie zuging. Ihr Gesicht sah schlaff aus, ihre Haltung war gekrümmt. Falten hatten sich tief neben die Nasenflügel eingegraben. Ihr schönes blondes Haar war raspelkurz geschnitten – ungleichmäßig, als habe sich jemand mit einer stumpfen Schere daran ausgetobt.
Sie hob den Kopf und ich schrak zusammen.
Ihre Augen waren leer. Nichts, aber auch gar nichts war darin zu sehen. Kein Funken Freude, keine Wärme, kein Leben. Sie waren wie tot.
»Hallo, mein Junge«, sagte sie mit einer Stimme wie eine Aufziehpuppe. »Da bist du ja.«
Hastig sah ich mich nach Iron Charlie um, obwohl ich wusste, dass er nicht im Haus war. »Was hat er dir angetan?«
Sie zeigte den Geist eines Lächelns. »Mir geht es gut. Ich kann wieder arbeiten, das ist doch gut. Alles wird gut.«
Die anderen Frauen schauten nervös zu uns herüber, wagten aber nicht, sich einzumischen. Obwohl ich mich bemühte, kein Scheißkerl zu sein, trauten sie mir nicht. Ich konnte es ihnen nicht verdenken.
»So kannst du nicht arbeiten«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Du siehst … nicht gut aus.« Das war eine Untertreibung. Meine Mutter war jung – sie hatte mich mit siebzehn Jahren zur Welt gebracht, ungeplant natürlich –, aber nun schien sie um zwanzig Jahre gealtert zu sein.
»Wie viel schuldest du ihm noch?«, fragte ich. »Ich habe Geld gespart, ich hol dich hier raus.«
Sie blinzelte nicht einmal. »Das kannst du dir nicht leisten«, flüsterte sie und tastete nach meiner Hand. »Erzähl mir lieber, was du in letzter Zeit gemacht hast. Hast du ein nettes Mädchen kennengelernt?«
Ich musste mehrmals ein- und ausatmen, weil mein Brustkorb sich verkrampft hatte. Wusste sie nicht, was ich hier tat? Oder wollte sie lieber glauben, dass ich ein normales, glückliches Leben führte, wie andere Jungs es in meinem Alter taten?
»Das nicht«, sagte ich heiser. »Aber ich habe jetzt einen guten Kumpel. Ich bin oft bei ihm, wenn …« Wenn ich nicht für Iron Charlie arbeiten muss. »Wenn die Schule aus ist. Er heißt Rosco und hat eine eigene Bude. Wir hängen eigentlich ständig zusammen.«
Das stimmte. In kürzester Zeit waren wir beste Freunde geworden. Mehr als das. Er wusste, woher ich kam und behielt es für sich, und ich hielt es umgekehrt genauso. Wir beide gehörten nicht in die normale, bürgerliche Welt unserer Schulkameraden, auch wenn ich es bisher sehr gut geschafft hatte, so zu tun, als ob.
»Ist er ein guter Junge?«, fragte meine Mutter.
Er besitzt zwei Messer und benutzt sie auch. Und er weiß, wer Iron Charlie ist. »Er ist klasse. Der beste Freund, den man sich vorstellen kann. Er kann ziemlich witzig sein.«
»Gut. Das ist gut.«
»Ja«, sagte ich und meine Kiefer verspannten sich, als sich die Eingangstür öffnete und Iron Charlie mit zwei Geschäftsfreunden hereinpolterte. Sämtliche Frauen im Empfangsbereich wurden stocksteif und setzten sofort ein Lächeln auf, ganz so wie es ihnen eingebläut wurde.
Als mein Vater mich erblickte, verfinsterte sich sein Gesicht. »Geh weg von ihr«, sagte er mit seiner gefährlich leisen Stimme. »Sie soll arbeiten, nicht tratschen. Hat schließlich lange genug Urlaub gehabt.« Er deutete auf zwei Mädchen, die noch nicht lange im Treibhaus arbeiteten. »Bring die beiden Grazien in mein Büro, Jules. Jetzt.«
Meine Zähne schmerzten noch Stunden später, so fest biss ich sie zusammen.
An diesem Tag verdiente meine Mutter kein Geld und an den folgenden Tagen auch nicht. Kein Wunder, sie sah aus wie eine wandelnde Tote. Die Freier warfen nur einen Blick auf sie und wandten sich ab. Abend für Abend saß sie mit starrem Lächeln an der Bar und Abend für Abend tat sich ein weiterer Riss in meinem Herz auf. Die eigene Mutter so kaputt zu sehen, war unerträglich. Ich durfte sie sehen, aber nicht mit ihr reden. Iron Charlie und Larry behielten mich im Auge. Mein Vater wusste nur zu gut, was ihr Anblick in mir auslöste. Wir gehörten ihm.
»Scheiße«, sagte Rosco, als ich ihm davon erzählte. Wir hockten auf dem Flachdach des hässlichen Wohnsilos, in dem er lebte, und tranken Bier. »Wir holen sie da raus. Irgendwie.«
»Er wird sie nicht gehen lassen. Weil ich dann auch weg bin. Wir sind sein Eigentum, nicht seine … Familie.« Ich würgte an dem Wort.
»Wir holen sie da raus«, wiederholte er stur. »Wirst schon sehen.«
Rosco war kein Schwätzer und er behielt immer recht, darum glaubte ich ihm. Doch diesmal hatte er unrecht.
***
Den ganzen Tag schon hing Unheil in der Luft. Die Huren verhielten sich noch ruhiger als sonst und die Atmosphäre war geladen wie vor einem Gewitter. Iron Charlie hatte Ärger mit einem Geschäftsfreund, der sich über die Ware beschwert hatte. Der Mann wollte seine Kohle zurück, aber das Mädchen war bereits beschädigt worden und Iron Charlie verweigerte die Rücknahme.
Ein anderes Mädchen war im Treibhaus von einem Freier misshandelt worden und ich hatte sie ins Krankenhaus bringen müssen, nachdem ich den Dreckskerl verdroschen und auf die Straße geworfen hatte. Dummerweise handelte es sich bei dem Typen um den Angehörigen eines Familienclans. Ich hätte es gleich bemerken müssen; er trug einen protzigen Anzug, eine protzige Golduhr und noch protzigere Ringe. Diese Kerle legten großen Wert auf ein eindrucksvolles Äußeres.
Iron Charlie hatte kein Wort dazu gesagt, sondern sich in sein Büro zurückgezogen und die Tür geschlossen. Nicht einmal Larry durfte ihn stören. Es verging eine Stunde, dann noch eine und er kam nicht heraus. Ich wurde mit jeder Sekunde nervöser. In meinem Magen nistete ein kleiner schwerer Klumpen. Ein schwarzes Ei, das sanft vor sich hin pulsierte.
Meine Mutter saß wie jeden Abend an der Bar, trug diese beschämenden roten Dessous, in denen kein Junge jemals seine Mutter sehen sollte, und wurde von den Kunden ignoriert. Sie lächelte, als sie meinen Blick auffing.
Bald, formten meine Lippen. Ich glaube, sie verstand, denn zum ersten Mal wurde ihr Lächeln tiefer und wärmer. Hoffnungsvoll. Ein echtes Lächeln, wie ich es lange nicht mehr von ihr gesehen hatte. Iron Charlie hatte ihren Glauben an ein Happy End nicht zerstören können.
Um vier Uhr nachts wurde ich von Bobby abgelöst. Ich arbeitete jeden Tag acht Stunden als Aufpasser, obwohl ich noch zur Schule ging. Iron Charlie hielt – welche Überraschung – nichts von Schulabschlüssen. »Alles, was du fürs Leben brauchst, lernst du im Leben, nicht aus Büchern«, war seine Meinung.
Ich schwang mich auf mein Motorrad, das ich gar nicht fahren durfte, weil ich keinen Führerschein dafür besaß, und fuhr zu Rosco, wie jede Nacht. Im Bordell hielt ich es nicht aus. Einerseits war ich verdammt froh, dass meine Mutter nicht mit einem fremden Mann aufs Zimmer gehen musste, andererseits … Iron Charlie würde nicht mehr lange zusehen, wie sie da saß und kein Geld einbrachte.
Rosco war ein Nachtmensch, genau wie ich. Wir trieben uns in den Flüsterkneipen herum, wo das Bier am billigsten war und niemand nach unserem Alter fragte. Oder saßen auf der Kaimauer, ließen die Beine baumeln, teilten uns einen Joint und schmiedeten Pläne. Regelmäßig kämpften wir gegeneinander, um schneller und stärker zu werden. Manchmal trafen wir andere Jungs aus dem Milieu, mit denen wir uns gut verstanden. Einer von ihnen lebte auf den Night Market und spielte den Handlanger für eine Gang. Er besaß eine Halbautomatik-Pistole, machte aber kein Aufhebens darum. Wir hatten ihn Storm getauft, weil seine Rastahaare immer so aussahen, als wäre er durch einen Sturm geritten.
In dieser Nacht also hing ich wie üblich mit Rosco in seiner Bude ab, bevor wir beschlossen, ins Vergnügungsviertel zu fahren. Morgen früh würde ich mal wieder in der Schule mit dem Kopf auf dem Mathebuch einschlafen, aber das war mir egal. Die Lehrer ließen mir vieles durchgehen, weil ich so nett lächelte und sowieso schon alles wusste.
Es würde sich bald herausstellen, dass ich nicht annähernd so klug war, wie ich gedacht hatte.
Als wir über die schillernde, lärmende Meile schlenderten, verspürte ich plötzlich dieses sanfte Pulsieren in meinem Magen. Es schien rhythmisch anzuschwellen und wurde dann wieder schwächer, wie ein sehr langsames Atmen. Es war ein unheilvolles, beängstigendes Gefühl und unwillkürlich schaute ich in die Richtung, in der sich das Treibhaus befand, nur wenige Straßen entfernt von dort, wo wir uns befanden.
Ich muss zurück, dachte ich. Etwas wird geschehen.
»Alles okay?«, fragte Rosco und ich bemerkte, dass ich stehengeblieben war und ins Nichts starrte.
Ein Typ rempelte mich an. »Aus dem Weg!«
Bevor ich die seltsame dunkle Lähmung abschütteln konnte, hatte Rosco dem Typen, der mindestens zehn Jahre älter war, die flache Hand ins Gesicht gerammt und ihn rückwärts gestoßen. Er hatte sich schon früh allein durchschlagen müssen und ziemlich harte Zeiten durchgemacht, die tiefe Spuren bei ihm hinterlassen hatten. Er schlug grundsätzlich zuerst zu, ohne lange zu diskutieren. So auch jetzt.
Der Kerl ging zu Boden und Rosco wandte sich zu mir und fragte: »Was ist los, Mann?«
»Ich muss zurück zum Treibhaus. Irgend etwas stimmt nicht.«
Wortlos setzte sich Rosco in Bewegung und ich folgte ihm, wurde immer schneller und überholte ihn. Das steinerne, atmende Ei in meinem Magen schwoll an, trieb mich vorwärts. Rücksichtslos stieß ich Vergnügungssüchtige aus dem Weg.
Als ich in die Straße einbog, in der das Bordell von Iron Charlie lag, wusste ich, dass ich zu spät gekommen war. Ich wusste es, obwohl nichts Ungewöhnliches zu sehen war. An der anthrazitfarbenen Fassade blinkte wie gewohnt der rotgoldene Schriftzug. Strahler setzten die überdimensionalen nackten Frauen, die rechts und links neben dem Eingang an die Wand gemalt worden waren, in Szene. Die Tür war geschlossen, auch wie immer.
Rosco hielt neben mir an. »Seit wann habt ihr einen Türsteher?«, fragte er.
Freak stand breitbeinig und mit verschränkten Armen vor dem Eingang und schickte harsch einen Mann fort, der das Treibhaus betreten wollte. Ich spurtete los. Freak hob den Kopf und starrte mir grimmig entgegen.
»Lass mich vorbei.«
»Verschwinde, Junge!« Er stieß mich rückwärts. »Heute hast du hier nichts zu suchen.«
Ich senkte den Kopf und hämmerte beide Fäuste in seinen Magen, mit einer Kraft, von der ich gar nicht gewusst hatte, das sie in mir steckte. Ächzend klappte er zusammen.
Rosco folgte mir ins Innere, durch den Empfangsraum und in die angrenzende Bar. Er prallte gegen mich, als ich abrupt stehenblieb.
»Heilige Scheiße«, hörte ich ihn aus weiter Ferne flüstern.
Ich begriff nicht, was ich vor mir sah. Die Frauen drückten sich mit weitaufgerissenen Augen und panischen Gesichtern an den Wänden herum. Musik lief im Hintergrund. Champagnerflaschen und Gläser säumten die Theke. Scherben lagen auf dem abgetretenen roten Teppich verstreut. Ich sah eine zerbrochene Flasche am klebrig-nassen Boden. In einer dunklen Lache lag meine Mutter, das Gesicht nach unten. Ihr stoppeliges Haar, einstmals so lang und golden und schön, dass ich als kleiner Junge dachte, sie müsste eine Königin sein, war rot von Blut. Dort, wo ihr Hinterkopf sein sollte …
Das schwarze Ei in meinem Innern zerbrach und ein Schatten zwängte sich hinaus, schwer und finster und vibrierend.
Larry kniete neben der Leiche meiner Mutter, ein Handy an das Ohr haltend. »… sofort herkommen und sie wegschaffen, ja. Ein paar Kunden haben bestimmt was mitbekommen. Kann sein, dass einer die Bullen …«
Seine Stimme versank in einem dumpfen Dröhnen, das sich in meinem Schädel ausbreitete. Ich sah alles überdeutlich, wie ein grell ausgeleuchtetes Foto, mit scharfen Konturen. Am Rand meines Blickfeldes zuckten Blitze.
»Ich hab dir gesagt, du sollst verschwinden.« Freak tauchte neben mir auf und packte mich am Kragen. »Du hättest das hier nicht sehen sollen.«
»Was ist passiert?« Meine Stimme war fadendünn. Ich spürte weder mein Herz noch sonst etwas, abgesehen von dem finsteren Etwas, das aus dem zerbrochenen Ei strömte und sich in mir ausbreitete. Kalt und erstickend wie giftiger Frost.
»Charlie hat … Sie hat schon wieder keinen Cent verdient. Hat wie üblich nur da gesessen und stumm gelächelt. Als er aus dem Büro gekommen ist und sie gesehen hat, da ist er ausgerastet …« Er räusperte sich. »Charlie war den ganzen Tag schon in gefährlicher Stimmung«, fügte er unbehaglich hinzu. »Tut mir leid.«
»Er hat ihr mit einer Champagnerflasche den Schädel eingeschlagen«, hörte ich Roscos vor Zorn bebende Stimme. Im Gegensatz zu mir war er klar im Kopf und hatte die Situation sofort begriffen. »Er hat Jules’ Mutter ermordet.«
Da erst begriff ich es. Meine schöne, liebevolle Mutter, die vor langer, langer Zeit aus Oslo ausgerissen war, weil sie davon geträumt hatte, eine Künstlerin zu werden, war gestorben, ohne je richtig gelebt zu haben. Mein Vater hatte sie zur minderjährigen Hure gemacht, hatte sie geschwängert, sie systematisch zerstört und zum Schluss getötet.
Kein Happy End.
»Ist er noch hier?«, fragte ich Freak. »Ist Iron Charlie hier?«
Larry sah zu mir auf, immer noch das Handy am Ohr. »Du wirst nichts tun, Junge, hast du verstanden? Wir kümmern uns um alles.«
Ich wusste, was das bedeutete: Männer würden herkommen und die Leiche meiner Mutter entsorgen. Sie in Säure auflösen, an eine Rotte hungriger Schweine verfüttern oder sie draußen vor der Küste mit einem Sack Kies versenken. Diese Männer arbeiteten für Feirbach; Iron Charlie würde ihnen Geld bezahlen, und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er diese Summe zu den Schulden hinzurechnete, die meine Mutter abzuarbeiten hatte. Geld für Kost und Logis und den Gynäkologen. Geld für die Pille, die billigen Dessous, für die Luft, die sie atmete. Geld für ihre Beerdigung.
Die ungewohnte kalte Finsternis in mir strömte durch meine Adern. Adrenalin schäumte auf, meine Muskeln strafften sich. Ich stieß Freak hart von mir und stürmte auf die Tür mit der Aufschrift PRIVAT – BETRETEN VERBOTEN zu, hinter der sich der Gang mit dem Büro und unseren Wohnräumen befand.
»BLEIB STEHEN!«, brüllte Larry.
Doch es war Rosco, der mich zurückriss und zu sich herumwirbelte. Eindringlich sah er mich an. »Mach jetzt keinen Fehler«, mahnte er.
»Er ist hier. Er sitzt genau jetzt in seinem scheiß Büro und trinkt seinen scheiß Gin, während meine Mutter hier liegt wie … wie …« Meine Augen brannten, aber sie blieben trocken. »Er hat sie erschlagen, Rosco!«
»Ja, das hat er.« Er senkte die Stimme. »Und du wirst sie rächen. Aber nicht jetzt. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Jetzt ist der beste Zeitpunkt«, knurrte ich und hörte selbst, dass ich nicht mehr wie ein Mensch klang.
»Nein. Du würdest hier nicht lebend rauskommen.« Er deutete mit dem Kopf zu Larry und Freak, die sich langsam näherten. Freak hatte seinen Elektroschocker gezogen, den unter dem T-Shirt verborgen im Hosenbund trug. »Vergiss nicht, wer Iron Charlie ist und wer du bist. Vielleicht kannst du ihn heute besiegen, aber ich würde nicht darauf wetten. Du bist noch nicht so weit.«
»Aber ich kann …«
»Nein, aber du musst!« Er fasste mich an den Schultern und bohrte seinen Blick in meine Augen. »Wenn du jetzt nicht deinen Verstand beisammen hältst, hast du verloren. Aber du willst gewinnen. Du willst deine Mutter rächen und ihn besiegen, nicht wahr?«
Ich brachte ein Nicken zustande.
***
An die ersten drei oder vier Tage nach ihrem Tod kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war die ganze Zeit bei Rosco, in seinem kargen Einzimmer-Apartment in diesem Wohnsilo, der von einer Gang kontrolliert wurde. Im Treppenhaus stank es nach Pisse und Erbsensuppe und Tag und Nacht dröhnte Musik durch die Gänge. Rosco wohnte in einer üblen Gegend, in der die Polizei grundsätzlich mit Schutzweste und drei Streifenwagen anrückte – falls sie sich überhaupt bequemte, auf einen Notruf aus diesem Viertel zu reagieren.
Am fünften Tag war ich wieder fähig, klar zu denken. Mein Ziel stand fest: Iron Charlie musste sterben. Aber ich war es meiner Mutter schuldig, dabei nicht auch noch draufzugehen.
Iron Charlie hatte viele Freunde und Verbündete – Adelstan Feirbach, der Schattenkönig von Steenport – war der mächtigste. Doch er hatte auch Feinde. Bei einem verrückten Bastard wie ihm war das kein großes Wunder.
Am sechsten Tag hatte ich meinen Plan gefasst und Rosco versprach, mich zu unterstützen. Ich kehrte ins Treibhaus zurück, den Kopf eingezogen wie ein geprügelter Hund.
»Hätte nicht gedacht, dass wir dich je wiedersehen«, sagte Larry. »Bist du bewaffnet?« Flink tastete er mich ab. »Was willst du hier?«
»Ich möchte mit Iron Charlie reden. Ich will wieder hier arbeiten.«
Ungläubig musterte er mich. »Du bist noch verrückter als dein Alter. Er ist im Büro. Wenn du Scheiße baust, bringt er dich um, vergiss das nicht.«
Die Tür war angelehnt. Iron Charlie saß mit gespreizten Beinen in seinem Leder-Chefsessel und ließ sich von einem Mädchen, das keinen Tag älter als sechzehn aussah, die Nudel lutschen. In der rechten Hand hielt er seinen berüchtigten Golfschläger. Sachte strich der schwere Eisenkopf über den Hintern des Mädchens, das jedes Mal zusammenzuckte.
Bei seinem Anblick spürte ich wieder das finstere Ding in mir erwachen. Anfangs war es nur ein wabernder Schemen gewesen, doch mittlerweile hatte es Konturen bekommen. Es hatte sich manifestiert und es nährte sich von mir. Ich konnte spüren, wie es große Bissen aus mir herausriss und die leeren Stellen mit seinem eisigen, betäubenden Atem füllte. Es war nicht unangenehm. Es befreite mich von der inneren Qual, die mich seit dem Tod meiner Mutter verfolgte.
»Da bist du ja wieder.« Lächelnd drückte er den Kopf des Mädchen fester gegen seinen Unterleib. Ich hörte sie würgen. »Hab gewusst, dass du zu mir zurückkommst. Bist du hier, um deine arme Mom zu rächen?«
»Nein. Sie war ein nutzloses Wrack, mehr nicht. Ich wollte dich fragen, ob ich wieder hier arbeiten kann.«
»Dir ist also endlich klargeworden, dass das hier dein Zuhause ist. Braver Junge.« Er grinste. »Du hast verstanden, was getan werden muss, um den Laden am Laufen zu halten. Kein Mitleid, denn Mitleid macht dich zu einem Schlappschwanz.« Seine Augen sahen aus wie zwei Lapislazuli-Steine, die ihm jemand in den Schädel gedrückt hatte. Ein silbriges Flimmern durchzog das Blau. »Deine Mom … Sie hat mich wütend gemacht, wie sie da auf meinem Barhocker in meinem Haus thronte, in den Klamotten, die ich ihr gegeben habe, und meinen Schampus trank. Tag und Nacht hat sie da gesessen und ununterbrochen gelächelt. Was stimmte mit ihr nicht, frage ich dich?«
»Das kann ich dir nicht sagen.« Meine Stimme klang neutral. »Ich hatte nichts mehr mit ihr zu tun. Sie hat bei dir gewohnt.«
»Ja, das hat sie«, murmelte er und dann gab er ein lang gezogenes Stöhnen von sich. Er stieß das Mädchen von sich. »Hau ab.«
Eilig rappelte sie sich auf und flüchtete aus dem Büro. In der aufreizenden Wäsche sah sie noch jünger aus, als ich gedacht hatte.
»Neuzugang?«, fragte ich.
»Wird morgen verkauft. Du und Larry werdet sie ausliefern.« Er schloss seine Hose und deutete mit dem Golfschläger auf mich. »Bist du mein Junge? Wirst du tun, was getan werden muss?«
»Darum bin ich hier.« Einer Eingebung folgend, fügte ich hinzu: »Tut mir leid, dass meine Mutter dir solche Scherereien gemacht hat. Ihre Zeit war wohl vorbei. Ich hab viel nachgedacht in den letzten Tagen und ich glaube, ich verstehe jetzt.«
»Was verstehst du?«
»Dass Frauen es nicht wert sind, sich den Kopf über sie zu zerbrechen. Es geht ums Geschäft und darum, das Chaos unter Kontrolle zu halten. Frauen bedeuten Chaos.« Ich dachte an Cassie, die ich nicht hatte retten können, aber es gelang mir nicht mehr, mich an ihr Gesicht zu erinnern.
»Frauen bedeuten Chaos.« Mein Vater nickte. Plötzlich lächelte er so strahlend, dass meine Knie weich wurden. »Mein Junge!« sagte er inbrünstig. »Ich wusste von Anfang an, dass wir beide von gleichem Blut sind. Ein Mann spürt das hier drin.« Er klopfte sich gegen die Brust. »Du bist genau wie ich.«
Der letzte Satz machte mir eine Gänsehaut. War ich wirklich auf dem besten Weg, eine jüngere Version von Iron Charlie zu werden?
Wenn schon.
Nachdem ich meine Schicht hinter mich gebracht hatte, traf ich mich mit Rosco am Hafen, unter dem historischen Lastkran. Er hatte Storm mitgebracht. »Er will helfen«, sagte Rosco.
»Ich kann gut schießen.« Der Rasta-Bursche grinste unsicher. »Das mit deiner Mutter ist eine Schweinerei. Nichts gegen deinen Dad, aber man redet über ihn. Der Kerl ist total durchgeknallt.«
»Vielleicht bin ich das auch«, sagte ich. »Verrücktheit ist genetisch bedingt.«
»Deine Mutter war nicht verrückt, oder? Für mich siehst du ganz normal aus.«
Ja, aber ich fühlte mich nicht normal. Ich spürte, dass ich nicht länger nur Jules war, sondern ein dunkles, lebendiges Etwas in mir herumtrug. Es machte mir Angst und gleichzeitig gab es mir das Gefühl, unbesiegbar zu sein.
***
Wie erwartet ging die Übergabe des Mädchens an ihren neuen Besitzer in die Hose. Einer musste sterben.
Sorry, Larry.
Es stellte sich heraus, dass Storm tatsächlich gut schießen konnte. Er und Rosco brüllten irgend etwas Arabisches aus dem Hinterhalt. Der Kunde, der das Mädchen gekauft hatte, sprang mit seinem Begleiter in sein Auto, legte den Rückwärtsgang ein und raste davon.
In wenigen Minuten würde Iron Charlie von dem Attentat erfahren. Er würde sich an den Sohn des Familienclans erinnern, den ich aus dem Treibhaus geworfen hatte, und mit seinem Golfschläger auf den Schreibtisch einprügeln.
Strm und Rosco verschwanden in der Dunkelheit. Ich drückte dem Mädchen ein paar Scheine in die Hand und gab ihr einen Stoß. »Verschwinde aus Steenport!«, sagte ich eindringlich. »Geh zurück zu deiner Familie. Nichts kann schlimmer sein als das hier.«
Aus verheulten Augen starrte sie mich an. »Echt jetzt?«
»Ja, echt jetzt. Hau ab und pass verdammt noch mal auf dich auf.«
Ich zerrte Larrys Leiche in den Transporter, mit dem wir hergekommen waren, und fuhr zurück zum Treibhaus.
Iron Charlie tobte und heulte. Sein Büro sah aus wie ein Schlachtfeld. Ich fürchtete schon, dass er mir den Schädel mit seinem Golfschläger spalten würde, doch er hatte sich in Rekordzeit wieder im Griff.
»Das waren diese Clan-Kanaken, ja? Die sind auf Vergeltung aus, weil wir ihren Bubi aus dem Treibhaus geschmissen haben.«
»Ich war das«, sagte ich. »Ich habe ihn rausgeworfen. Wenn ich gewusst hätte … So eine Demütigung können sie nicht auf sich sitzen lassen.« Taten sie aber doch, denn der Clansmann war mit der Tochter eines befreundeten Gangbosses verheiratet. Wenn der erfuhr, dass sein Schwiegersohn Huren aufsuchte, stünde ganz schnell die Scheidung ins Haus. Ich würde mich hüten, Iron Charlie davon zu erzählen.
»Spielt keine Rolle. Der Junge hat eine meiner Nutten kaputtgemacht. In meinem Haus! Steenport gehört Feirbach, nicht diesen Affen. Ich mach sie fertig!« Er drosch den Schläger gegen die Wand und hinterließ ein tiefe Delle.
»Soll ich Feirbach kontaktieren?«, fragte ich.
»Für wen hältst du dich? Meinen Sekretär? Für so einen Scheiß hab ich Larry.«
»Larry ist tot«, erinnerte ich vorsichtig.
»Fuck, ja.« Er kam wieder zur Besinnung. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war er plötzlich wieder ganz ruhig. Er musterte mich und für einen Augenblick fürchtete ich, dass er mich durchschaut hatte. »Wahrscheinlich hatten sie es auf dich abgesehen. Was für ein Glück, dass sie dich nicht erwischt haben.«
»Ja, was für ein Glück.«
Am nächsten Morgen lag eine tote Ratte auf der roten Fußmatte vor dem Eingang des Treibhaus.
»Das war das Clan-Pack«, sagte mein Vater zornbebend. »Die Wichser haben mir den Krieg erklärt. Na, das können sie haben!«
Ich widersprach ihm nicht, obwohl ich natürlich wusste, dass Rosco den Kadaver dort abgelegt hatte. Kein Wort über Larrys Tod, aber ich hatte nichts anderes erwartet. Mein Vater war ein Psycho. Menschen interessierten ihn nur, solange sie für ihn von Nutzen waren.
In der Szene sprach es sich schon bald herum, dass Iron Charlie Ärger mit einem Familienclan hatte. In jeder Flüsterkneipe wurde spekuliert, was als nächstes geschehen würde. Wir hatten merklich weniger Kunden als sonst. Sie fürchteten wohl, dass jemand eine Bombe ins Treibhaus werfen könnte.
Warum sprach es sich so schnell herum?
Na, weil wir dahintersteckten.
Inzwischen war unsere Gruppe zu einem Quartett angewachsen. Storm hatte vom Night Market einen Jungen namens Antonio mitgebracht. Wegen seiner scharfen Nase und seinem langen schwarzen Haar tauften wir ihn Crow. Er war cool, kein Schwätzer, und er brauchte Freunde. Wer in Steenports Unterwelt überleben will, kommt allein nicht weit. Ich mochte ihn.
In der nächsten Nacht fuhren meine Freunde zu einem Pendler-Parkplatz, wo Iron Charlie drei Huren-Trailer stehen hatte. Mit Baseballschlägern stürmten sie in die Wohnwagen, jagten die Frauen davon, verprügelten die Freier und verwüsteten die Einrichtung. Zum Abschied hinterließen sie eine tote Ratte.
»ES REICHT!«, schrie Iron Charlie, als er davon erfuhr. »Ich radiere dieses Pack aus!« Er rannte in seinem Büro hin und her, seine Hände öffneten und schlossen sich.
Freak und Bruno und ich standen vor seinem Schreibtisch und tauschen unbehagliche Blicke. Iron Charlies Augen flackerten wie nie zuvor.
Noch lehnte der Golfschläger in der Ecke, doch es war nur eine Frage der Zeit …
Er befahl, das Bordell nicht öffnen, nachdem die Putzmannschaft, die täglich von sechs bis sieben Uhr saubermachte, abgezogen war. Es war noch nie vorgekommen, dass das Treibhaus geschlossen war. Sogar an Weihnachten wurden Kunden empfangen.
»Freak«, mein Vater deutete auf ihn. »Du fährst zum Night Market und heuerst ein paar erfahrene Schläger ein. Zehn oder zwölf Männer mit Waffen. Und du, Bruno … Wie viele Leute kannst du zusammentrommeln?«
»Sieben.« Bruno kratzte sich am Kopf. »Aber das sind keine Söldner. Die haben normalerweise nur mit zickigen Frauen zu tun.«
»Dann besorg ihnen verdammt noch mal Pistolen! Ich werde diesem Clan-Pack erklären, wer hier die Regeln aufstellt.«
»Was soll ich tun?«, fragte ich.
Iron Charlie überlegte. »Schließ die Frauen ein und sag dem Typen im Monitorraum – wie heißt er noch? –, dass er das Haus sichern soll. Macht die Alarmanlage scharf. Ihr beide seid für die Sicherheit zuständig.«
Es lief exakt so, wie Rosco vorhergesagt hatte: Gib ihm einen Feind und er blendet alles andere aus.
Ich tat, was er befohlen hatte. Ich brachte die Frauen in die Zimmer und schloss den Vordereingang ab. Ich wartete, bis Freak und Bruno das Haus verlassen hatten, dann ging ich in den Raum mit den Überwachungsmonitoren und sagte dem Security-Mann, dass seine Schicht für heute beendet war. Ich schwöre, er war erleichtert, als er nach seiner Jacke griff.
Bevor er das Haus durch den Hinterausgang verließ, sagte er: »Pass bloß gut auf dich auf.«
Ich nickte und schloss hinter ihm ab.
Draußen im Vergnügungsviertel ging das Leben weiter. Hier drin, im Treibhaus, blieb die Zeit stehen. In der Küche füllte ich eine Tasse mit Kaffee und kehrte zum Büro meines Vaters zurück. Er telefonierte mit jemanden. Geistesabwesend winkte er mich hinein und drehte mir den Rücken zu. Ich stellte die Kaffeetasse auf dem lädierten Schreibtisch ab, wich rückwärts bis in die Ecke, wo der Golfschläger stand, und schloss meine Finger um den Griff.
***
»Den Rest kannst du dir sicher denken«, sagt Jules. »Mein Vater war zäher, als ich gedacht hatte, aber gegen ein Neuner-Eisen hatte auch er keine Chance. Ich habe … eine ordentliche Sauerei angerichtet.«
Ich blicke mich im vertrauten Wohnzimmer um. In dem 200 Jahre alten Kamin züngeln Flammen über das verkohlte Holz und jenseits der Fenster zeigt sich ein zaghafter Hauch von Sonnenaufgang. In der Ferne zwischen den Hügeln funkeln die Lichter der Ruhrmetropole. Wir wohnen recht einsam; hier oben gibt es Eulen, Waschbären und Hirsche, die unsere Rosenknospen abknabbern, aber die Großstädte sind näher, als man denkt.
»Wie ging es weiter?« Aber eigentlich lautet meine Frage: Warum zum Teufel gibt es in unserem Haus eigentlich keine Bar mit richtig starkem Zeugs?
»Ich verließ das Treibhaus durch den Hintereingang, schleuderte den blutverschmierten Golfschläger ins Hafenbecken und fuhr zu Rosco. Crow und Storm waren auch dort. Sie hatten auf mich gewartet.« Jules holt tief Luft. »Sie stellten keine Fragen und das war gut so. Rosco drückte mir eine Flasche mit Whisky in die Hand und die beiden anderen Jungs klopften mir auf die Schulter. Wir saßen auf dem Dach, tranken und schwiegen und hörten Musik.«
»Hat niemand nach dir gesucht?«
»Nein. Alle wussten, dass mein Vater Ärger mit einem Clan hatte. Ich war bloß der kleine, unbedeutende, katzbuckelnde Laufbursche. Freak und Bruno haben sich ebenfalls verpisst, als sie von Iron Charlies Tod erfuhren. Es stellte sich übrigens heraus, dass auch Blake tatkräftig mitgeholfen hatte, das Gerücht vom rachsüchtigen Clan zu verbreiten. Du kennst Blake?«
»Der Mann, den ihr später zum Rotlichtkönig gekrönt habt.«
»Genau der. Er war ein Konkurrent meines Vaters. Anständiger Mann. Vielleicht hat er geahnt, dass etwas geschehen würde.«
»Du hast mir gerade einen Mord gestanden, Jules.«
»Ganz recht, Frau Klugscheißerin. Und du kannst nichts dagegen tun.« Er sieht mich an. »Aber dieses finstere Ding in mir ist nicht mit Iron Charlie gestorben.« Während er das sagt, klopft er sich gegen die Brust. »Es ist immer noch da. Es wird leben, so lange ich lebe.«
»Du machst mir Angst.« Ich ziehe mir die Kapuze meines Cheers, Motherfucker-Hoodies über den Kopf.
Er verdreht die Augen. »Hast du mir nicht zugehört? Ich habe jetzt Trix. Ich habe eine Familie … Gut, es gibt harmonischere Familien. Rosco mit seiner Vernunft kann verdammt nervig sein und Storm muss ganz dringend durchgeschüttelt werden. Seine Trauermine und seine verzweifelten Exzesse gehen mir auf die Nerven. Die Sache mit Pony hat er gründlich in den Sand gesetzt. Und Crow … Der Mann ist schon schlecht gelaunt zur Welt gekommen. Aber … wenn ich morgens aufwache, halte ich Trix in meinen Armen. Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe. Dieses Gefühl, endlich am richtigen Ort zu sein …«
Seine Stimme verliert sich. Vielleicht stellt er sich gerade vor, wie sie sich an ihn schmiegt, warm und schwer und voller Vertrauen.
»Liebst du sie?«
»Machst du Witze?« Er richtet seine indigoblauen Augen auf mich. Der Schein des Feuers zaubert goldene Sterne in seinen Blick. »Ohne sie bin ich nichts. Ohne sie fühle ich nichts. Sie packt den Wolf in mir an beiden Ohren und drückt ihm einen Kuss auf sie Schnauze.« Leises Lachen. »Sie sorgt dafür, dass ich mich wie ein Mensch fühle. Ein Mensch, der geliebt wird.«
»Hoffentlich vergisst du es nicht«, sage ich vorsichtig.
»Nichts im Leben ist in Stein gemeißelt, Frautorin. Aber Trix braucht mich, so wie ich sie brauche. Zusammen ergeben wir ein Ganzes. Das Biest in mir ist nicht stark genug, um gegen uns beide anzukämpfen.« Er legt die Hände auf seine Knie und beugt sich vor. »Solltest du je versuchen, sie mir wegzunehmen, werde ich dich bis in die tiefsten Tiefen der Hölle verfolgen. Kapiert?«
»Kapiert.« Ich räuspere meine Kehle frei. »Das ist das erste Mal, dass ich ich von einer meiner Kopfgeburten bedroht werde.«
»Wer sagt denn, dass ich nur in deinem Kopf existiere?« Er lächelt. »Ich bin da, Trix ist da, und wir haben all unsere Freunde mitgebracht. Du weißt doch: Die Feder ist mächtiger als das Schwert.«
»Hast du das aus Indiana Jones geklaut?«, krächze ich.
»Ein Zitat von Edward Bulwer-Lytton.« Er lehnt sich zurück. »Fiktion ist eine andere Form von Realität. Wenn wir uns etwas vorstellen können, dann haben wir es erschaffen. Es muss nicht greifbar sein, sondern spürbar! Steenport existiert. Die Wölfe existieren. Ich sitze dir gegenüber, oder nicht? Du siehst mich.«
Das kann ich nicht leugnen. Ich sehe seine schönen blauen Augen, sehe sein einnehmendes Lächeln und höre seine Stimme. Ich habe mit ihm gelitten und kann immer noch seinen innerlichen Kampf spüren. Unsere Welt beschränkt sich nicht auf die unmittelbare Umgebung, auf das Jetzt. Ohne Visionen und Träume wären wir nur Roboter in einer zweidimensionalen Welt.
Jules ist kein guter Mann. Er tötet Menschen. Aber er ist auch keine Bestie, sondern eine verlorene Seele.
Ich frage: »Wie geht es jetzt weiter?«
»Wir haben noch einiges zu tun, du und ich.« Er steht auf und geht zum Fenster. »Wir werden auf den Night Market zurückkehren. Dort passieren Dinge, weißt du?«
»Ja, das habe ich mitbekommen.«
Ich denke an den vermissten Starkoch Dan Jacoby, der aus unerfindlichen Gründen auf dem Night Market gelandet ist, in Ketten gelegt wie ein wildes Tier. Wie zum Teufel ist er dort hingekommen?
Er dreht sich zu mir um. »War da nicht auch noch etwas mit zwei verschollenen Bullhead-Rockern?« Ein Grinsen blitzt in der zaghaften Morgendämmerung auf.
Ich stöhne. »Danke für die Erinnerung, aber ich hab’s nicht vergessen.«
***