Leseprobe – TALES FROM THE NIGHT MARKET | EXIT

PROLOG

Steenport. Mitten in der Nacht.
Ein Handy dudelt Spiel mir das Lied vom Tod.
»Hallo?«
»Adrian, Gott sei Dank! Bitte, ich … ich brauche …«
»Du hast dich verwählt, Schätzchen. Hier gibt’s keinen Adrian.«
»Adrian, ich bin’s! Juno!«
Pause, gefolgt von einem ungläubigen: »Juno? Ich dachte, du hättest längst meine Nummer gelöscht.«
»Ja … Nein … Tut mir leid.«
»Es ist jetzt … Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Das muss Jahre her sein.«
»Bevor du ins Gefängnis musstest«, lautet Junos geflüsterte Antwort. »Es tut mir leid.«
»Das sagtest du bereits.« Der Angerufene lauscht den unterdrückten Geräuschen am anderen Ende. »Heulst du etwa? Was zum Teufel ist los? Warum rufst du mich an?«
»Ich … Laurenz und ich haben uns … Wir hatten einen Streit.«
»Und deswegen wählst du mitten in der Nacht meine Nummer, nachdem du mir zuletzt ins Gesicht gesagt hast, dass …«
»Ich habe ihn GETÖTET!«, kreischt die Stimme am anderen Ende. »Er bewegt sich nicht mehr.«
»Echt jetzt? Wow.« Ein ungläubiges Lachen.
»Bitte, ich brauche deine Hilfe. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wollte das nicht, Adrian. Das musst du mir glauben!«
»Hör auf, mich Adrian zu nennen. Ich heiße jetzt Needle, verdammt. Needle! Merk dir das. Bist du sicher, dass er tot ist?«
»Ich … Ich …«
»Beruhige dich. Atme tief durch, dann erzähl mir, was passiert ist.«
Hektische Atemzüge dringen durch die Leitung. »Wir haben uns gestritten.« Die Frau ringt hörbar um Beherrschung. »Laurenz hat herausbekommen, was ich … dass ich … Er wurde gemein zu mir. Richtig gemein.«
»Was heißt das? Hat er dir wehgetan? Hat dieser Arsch dir etwas angetan?«
»Ja«, flüstert die Frau. »Ich habe ihn noch nie so wütend erlebt. Ich dachte, er würde mich umbr…« Wieder bricht sie in Schluchzen aus. »Ich dachte wirklich, ich würde jetzt sterben. Auf dem Tisch stand dieser Wein … ein 2018er Opus One. Die Flasche kostet über 300 Euro, kannst du dir das vorstellen?« Ihr hysterisches Lachen klingt wie ein Aufheulen. »Ich habe die Weinflasche genommen und zugeschlagen. Ohne nachzudenken. Ich habe ihn am Kopf getroffen. Überall war Blut. Was habe ich nur getan?«
»Ist er wirklich tot? Hast du es überprüft?«
»NEIN! Ich bin aus dem Haus gerannt und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.«
»Hast du die Polizei gerufen? Den Rettungsdienst?«
»Oh Gott, das hätte ich tun sollen.« Schniefen. »Vielleicht lebt er noch. Vielleicht … Ich gehe zurück und …«
»Das wirst du nicht tun!«, unterbricht er scharf. »Du wirst dich ihm nicht nähern. Das war nicht das erste Mal, dass er dir wehgetan hat, oder?«
»Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht«, flüstert sie. »Er hat es herausgefunden.«
»Was kann so schlimm sein, dass er dich dafür umbringen wollte?«
»Ich … Bitte, ich möchte nicht darüber reden.«
»Wo bist du jetzt, Juno?«
»Ich weiß nicht …« Pause. »Ich stehe bei der Weltzeituhr. Keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin.« Ihr hysterisches Lachen klingt, als würde sie jeden Augenblick den Verstand verlieren. »Ich habe nicht mal Schuhe an, nur den Rock und die Bluse, die er nicht ausstehen kann. Und das Handy, ja. Mein Handy hab ich mitgenommen. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet dich angerufen habe.«
»Das war genau richtig, Juno.«
»Aber ich muss zu ihm zurückgehen! Wenn er noch lebt …«
»Dann wird er sich bestimmt nicht bei dir bedanken. Du bleibst, wo du bist, verstanden?«
»Aber …«
»Hör mir zu, Juno. Wenn es ihm gut geht, wird er dir das Leben zur Hölle machen. Wenn nicht, dann steckst du erst recht in großen Schwierigkeiten. Die Bullen werden nach dir fahnden und …«
»ICH BIN DOCH KEINE MÖRDERIN«, kreischt sie so laut, dass Needle das Smartphone vom Ohr weghält. »Laurenz hat mich am Hals gepackt und zugedrückt! Er wollte mich töten, ich habe es ihm angesehen. Seine Augen waren ganz kalt.«
»Was für ein widerliches Arschloch«, grollt der Mann.
»Er hat es herausgefunden. Es war meine Schuld.«
»Was auch immer – es gibt ihm nicht das Recht, dir so etwas anzutun. Rühr dich nicht von der Stelle. Ich komme und hole dich. Ich kümmere mich um alles. Du legst jetzt auf und entsorgst dein Handy, hast du verstanden?«
»Aber ich brauche es, wenn er … wenn mich jemand erreichen muss. Kann ich eine Weile bei dir bleiben, Adr… Needle?«
Needle atmet mehrmals durch. »Juno, du weißt, dass ich auf dem Night Market wohne, ja? Zusammen mit meinen Jungs.«
»Äh … nein. Was für Jungs? Auf dem Night Market?« Ihre Stimme kippt. »Etwa auf dem Night Market?«
»Einen anderen gibt es nicht. Hör zu, du bist meine Schwester, also helfe ich dir. Aber du wirst akzeptieren müssen, wie ich lebe, klar? Ich will keine Vorwürfe hören!«
»Ja, natürlich, aber … ausgerechnet der Night Market?«

 

KAPITEL 1
Jules

Bevor wir mit dieser Geschichte beginnen, sollte ich mich kurz vorstellen: Jules Batiste, Gangsterboss der berüchtigten Wölfe, gewalttätiger Psychopath, der sich alle Mühe gibt, eine gesunde Beziehung zu führen, und obendrein frischgebackener Besitzer eines … nennen wir es Privatgefängnis mit verhaltenstherapeutischem Service.
Trix und ich wohnen weit außerhalb der Stadt, abgeschieden im Waldgebiet in der prunkvollen Nornenburg, die früher einmal eine Irrenanstalt gewesen ist. Ich mag den alten Kasten und arbeite hier sozusagen im Homeoffice. Die 36 Zellen im Untergeschoss, in denen einst tobende Nervenkranke und unliebsame Erben weggesperrt wurden, habe ich sanieren und mit Überwachungskameras ausstatten lassen. Es gibt einige Behandlungsräume, in denen ich mit meinen Patienten an ihrer inneren Einstellung arbeite oder ihnen einfach nur unsägliche Schmerzen zufüge. Die Schallisolierung des Kellers ist hervorragend. Kein Geräusch dringt nach oben.
Die ersten Insassen sind vor Kurzem eingezogen. Sie wurden meiner Obhut anvertraut, weil sie ihrem Boss auf die Füße getreten sind. Die einen haben Drogen von einer Lieferung abgezweigt und auf eigene Kosten verscherbelt, andere haben sich auf einen Deal mit den Behörden eingelassen oder im falschen Moment etwas Strunzdummes gesagt. Meine Aufgabe ist es, ihnen die gerechte Strafe zukommen zu lassen, sie zu resozialisieren, auf dass sie wieder verlässliche Mitarbeiter werden, oder sie für ihre Taten büßen zu lassen. Mit Livestream für den Auftraggeber. Die anschließende Entsorgung ist selbstverständlich im Preis inbegriffen.
Es ist eine überaus befriedigende Tätigkeit, bei der ich meine Kreativität voll ausleben kann. Sie bringt mir obendrein ein kleines Vermögen ein und hilft mir, mein seelisches Gleichgewicht zu wahren. Schließlich trage ich jetzt Verantwortung für das Mädchen, das zu mir gehört.
Nicht dass wir uns falsch verstehen: Ich bin kein besserer Mensch geworden, nur weil ich jetzt eine Freundin habe. Aber ich fühle mich besser. Morgens, wenn ich aufwache und Trix’ Haar mich in der Nase kitzelt, empfinde ich regelrechte Euphorie. Vielleicht ist es auch Glück.
Ich kenne mich mit den Feinheiten einer Beziehung nicht aus, aber ich arbeite daran.
Was schwieriger ist als gedacht, wenn die Freundin seit Tagen in sich gekehrt und schweigsam ist und auf alle Gesprächsversuche nur mit einem halbherzigen »Hm« oder »Alles okay« antwortet.
Es ist nicht okay. Ihr Blick driftet ins Nichts, statt mich anzuschauen, und sie verbringt den Großteil des Tages damit, ziellos durch das riesige Gebäude zu streifen. Sie fragt mich auch nicht mehr, ob sie mal ins Untergeschoss darf.
Natürlich nicht. Was da unten geschieht, geht sie nichts an. Sie soll nicht denken, dass ich …
Okay, sie weiß, was ich bin. Aber etwas zu wissen und es mit eigenen Augen zu sehen, sind zwei verschiedene Dinge.
Ich bin unschlüssig, ob die Nornenburg der richtige Ort für uns ist. Vielleicht sollte ich ihr ein angenehmeres, ein normaleres Zuhause in der Stadt bieten. Andererseits fürchte ich, dass sie mir dann entgleiten könnte. Ich bin ein Egoist; ich habe lieber eine unglückliche Trix als gar keine.
Sie besitzt viele Talente, die sie nicht mehr einsetzt, seit sie mit mir zusammen ist. Ganz besonders talentiert ist sie darin, sich in Schwierigkeiten zu bringen, darum zögere ich, sie als Trickdiebin für die Wölfe einzusetzen. Mein Partner Rosco hingegen besteht darauf. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich nämlich seine Freundin Everly hinter seinem Rücken in unsere Organisation geholt. Sie macht sich überraschend gut als Notfall-Koordinatorin; sie hat eine schnelle Auffassungsgabe und trifft die richtigen Entscheidungen, wenn es brenzlig wird. Es ist ein reiner Bürojob, total ungefährlich. Rosco tut trotzdem so, als hätte ich sie mit einem Brotmesser aufs Schlachtfeld geschickt. Manchmal ist er ein echtes Mimöschen.
Trix hingegen würde nicht an einem Schreibtisch sitzen. Sie würde es mit richtig gefährlichen Leuten zu tun bekommen. Ist es da ein Wunder, dass ich sie vom operativen Geschäft fernhalte?
Blöderweise sieht Trix das anders. Sie braucht Herausforderungen wie die Luft zum Atmen. Sie langweilt sich, sie will uns unbedingt beweisen, was sie drauf hat. Ich verspreche ihr also weiterhin jeden Tag, sie bald in unsere Organisation einzubinden, ohne Taten folgen zu lassen. Mittlerweile hört sie schon gar nicht mehr zu, sondern starrt aus dem Fenster hinaus in den Wald. Nicht einmal mehr ihren Zauberwürfel hat sie in letzter Zeit angerührt. Ihre flinken Finger sind normalerweise ständig in Bewegung, verdrehen das Spielzeug in solcher Geschwindigkeit, dass man es kaum mit den Augen verfolgen kann. Doch seit Tagen liegt der Würfel unbenutzt auf der Kommode.
Der Sex mit ihr ist auch seltsam still geworden. Weder stöhnt sie meinen Namen, wenn ich sie hart kommen lassen, noch bedenkt sie mich mit kreativen Beleidigungen, wenn ich sie nicht kommen lasse.
Ich muss etwas unternehmen, oder Trix wird zu dem Schluss kommen, dass ich der größte Fehler ihres Lebens bin. Außerdem geht mir Rosco auf die Nerven. Er will unbedingt persönlich mit mir reden. In letzter Zeit haben mein Partner und ich organisatorischen Kram ausschließlich telefonisch geregelt. Also habe ich Trix heute ins Auto verfrachtet, um mit ihr in die Stadt zu fahren, zum Domizil der Wölfe.
Die Fahrt verläuft still, obwohl ich mir alle Mühe gebe, ein Gespräch in Gang zu bringen. Mehr als »Hm« und »Mh« bekomme ich nicht zu hören, nicht einmal, als ich von meiner neuesten Errungenschaft erzähle, dem Nachbau eines Folterstuhls aus dem 14. Jahrhundert, gespickt mit Hunderten eisernen Dornen. Sie sind stumpf, wodurch die Qual noch erhöht wird. Anfangs spürst du nichts, doch innerhalb weniger Stunden fängt es an, sehr unbequem zu werden. Nach einem Tag bettelst du weinend um Erlösung. Ich kann es kaum erwarten, das Möbel auszuprobieren.
Da Trix nicht reagiert, füge ich an: »Ich denke darüber nach, unsere Stühle im Speisezimmer mit Dornenstacheln auszustatten. Das würde die Mahlzeiten viel interessanter gestalten, meinst du nicht auch?«
»Hm.«
»Hey, hast auch gerade den Brontosaurus am Straßenrand gesehen? Jemand sollte ihm sagen, dass Hawaiihemden out sind.«
»Hm.«
Das schwere Rolltor zum Domizil der Wölfe öffnet sich langsam und Trix spannt sich unmerklich an. Äußerlich wirkt sie unbeteiligt, während wir auf das Gelände fahren, doch mich kann sie nicht täuschen. Wir beide sind so stark miteinander verbunden, dass ich auch den leisesten Stimmungswechsel spüre.
Ich Idiot! Wahrscheinlich muss sie daran denken, wie sie hier beinahe von Olav und der von ihm aufgestachelten Meute vergewaltigt worden wäre. Im Haus meiner Gang.
Ich lege meine Hand auf ihre und drücke ihre klammen Finger. »Du weißt, warum wir hier sind, ja?«
»Nein«, sagt sie vorsichtig.
»Deine Schonfrist ist vorüber. Es wird Zeit, dir eine Aufgabe zu übertragen. Du bist jetzt eine von uns.«
Das Lächeln, das auf ihrem Gesicht erblüht, ist das Schönste, was ich je gesehen habe. »Na endlich. Ich habe schon geglaubt, du wolltest mich für den Rest meines Lebens in der Nornenburg einkerkern.«
»Ich habe dich doch nicht …«
»Jules, ich stand kurz davor, mich mit einem Bettlaken aus dem Fenster abzuseilen und mich quer durch die Wildnis bis zur nächsten Autobahnauffahrt durchzuschlagen, um eine Mitfahrgelegenheit nach Hellington zu ergattern. Eine talentierte Diebin kann dort viel Geld verdienen.«
»Über so etwas solltest du keine Witze machen.«
»Das tue ich nicht. Animalischer Sex mit dir ist super, reicht aber auf Dauer nicht aus.« Sie kneift die Augen zusammen. »Versprichst du mir hoch und heilig, dass ich endlich was tun darf?«
»Ich verspreche es.«
Ihr erleichtertes Grinsen geht mir durch und durch. »Danke«, sagt sie inbrünstig. »Was klaue ich als Erstes? Ein Gemälde? Diamanten? Ich muss endlich schießen lernen. Bringst du es mir bei?«
Ihre gute Laune hebt auch meine Stimmung. »Das werden wir gleich zusammen mit Rosco besprechen.«
Ich lenke den Bugatti quer über den Hof bis vor den Eingang des ehemaligen Fabrikgebäudes. Crow, der gerade damit beschäftigt ist, einen Frischling zu verprügeln, hebt kurz den Kopf, um uns mit einem Nicken zu begrüßen. Im nächsten Augenblick zimmert er dem bedauernswerten Burschen die Faust in die Eingeweide. Dieser krümmt sich und kotzt seinen Mageninhalt in einem dicken Schwall aus.
Nach Hause kommen ist doch etwas Schönes.
Rosco tritt aus dem Haus und stellt sich mit verschränkten Armen auf die Eingangsstufe. Er ist mehr als nur mein Partner. Er ist mein Freund, mein Gewissen und nicht selten auch meine Gouvernante. Jetzt setzt er seinen berüchtigten Wir haben ein Problem-Ausdruck auf und mir schwant, dass dieser Tag anders verlaufen wird als geplant.
Warum er gerne langärmlige Oberteile trägt, fragt ihr euch? Die Frage beantwortet sich von selbst, wenn er seine beiden schlanken Messer aus den Unterarmscheiden gezogen und in euren Leib versenkt hat. Mit etwas Glück könnt ihr noch ein »Was …?« röcheln, bevor ihr in die ewige Dunkelheit stürzt.
»Was hat er denn?« Trix zieht eine Grimasse. »Ist es meinetwegen? Wir sollten abhauen, bevor er seine Messer zückt.«
»Rosco liebt es einfach, negative Vibes zu verbreiten. Oder er ist immer noch sauer, dass wir nicht hier im Domizil wohnen, wo er uns den ganzen Tag auf die Nerven gehen kann.«
»Ich glaube nicht, dass ich hier wohnen möchte«, erwidert sie. »Ich will nicht mit einem Haufen Kerle unter einem Dach leben, die beim Mittagessen ihre Fußnägel mit einem Bolzenschneider kürzen und zum Dessert eine Leiche in den Kofferraum werfen.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht«, brumme ich. »Ich würde dir allerdings dringend abraten, dich auf eines der Sofas im Gemeinschaftsraum zu setzen. Und woher die Flecken auf dem Filz des Billardtisches stammen, willst du auch nicht wissen.«

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