Merry Mayhem – Der Glitzerbonus
Kapitel 1 – Lucy
Alaska war kein Mann, der lange zauderte.
Nachdem er von meinen Lippen abgelassen hatte (und ich noch damit beschäftigt war, meinen glückstaumelnden Verstand wieder zusammenzusetzen), ging er schon auf die Eingangsstufen meines Elternhauses zu, wo sie alle standen und uns anglotzten.
»Sie haben sicher kein Problem damit, dass ich Lucy mit mir mitnehmen werde«, sagte er mit seinem Boss-Lächeln, das keinen Widerspruch duldete, und schob seine Hände in die Hosentaschen. Höflichkeit war nicht sein Ding, Händeschütteln offenbar auch nicht. Wahrscheinlich durften meine Eltern froh sein, dass er sie überhaupt zur Kenntnis genommen und eine Ansage gemacht hatte.
Meine Mutter sah meinen Vater an, meine schwangere Schwester ihren dämlichen Freund, der wiederum mich anglotzte, als hätte er mich nie zuvor gesehen.
Mein Vater räusperte sich. »Wollen Sie sich nicht erst einmal vorstellen, junger Mann?«
Bei junger Mann biss ich mir auf die Unterlippe. Alaska war etwa Mitte dreißig, aber von einem dermaßen einschüchternden, selbstbewussten Auftreten, dass einem alle möglichen Bezeichnungen in den Sinn kamen – von skrupelloser Mafia-Boss bis zu Hilfe, er hat mich bemerkt! –, aber bestimmt nicht junger Mann. Die Bezeichnung passte eher zu Frank.
Siedend heiß schoss es mir durch den Kopf: Ich weiß nicht einmal sein richtiges Alter, geschweige denn seinen bürgerlichen Namen. Eigentlich wusste ich gar nichts von diesem Kerl, mit dem ich den unglaublichsten Sex meines bisherigen Lebens erlebt hatte (ja, das lag größtenteils daran, dass mein gesamtes bisheriges Leben nicht gerade vor Zügellosigkeit und heißen Männern strotzte. Danke für den Hinweis).
»Nein, will ich nicht«, sagte Alaska. »Ich denke, Lucy hat mich bereits das eine oder andere Mal erwähnt.« Er blickte zu mir und lächelte. Abwartend, fragend. »Das hat sie doch, oder?«
»Nicht … nicht so wirklich«, murmelte ich. »Schließlich dachte ich, dass ich dich nie wiedersehen würde.«
Er fuhr sich durch sein Haar, das einen Hauch zu lang war, um als akkurate Frisur durchzugehen. »Na, egal. Pack deine Sachen. Wir fahren …«
Ein Wagen raste auf den Hof. Ein schwarzer Rover von der Sorte, die Alaskas Männer fuhren. Er schlitterte quer über den Hof und kam knapp vor dem Bugatti zu stehen. Sehr knapp.
Alaskas Miene wurde finster. Sie verfinsterte sich noch mehr, als Kevin und Bones aus dem Fahrzeug sprangen, und zwar mit gezückten Waffen.
Meine Mutter stieß einen erschreckten Laut aus. Als echte Landfrau fiel sie nicht sofort in Ohnmacht, aber sie las für ihr Leben gern Krimis und hatte ihre eigene Meinung über Großstadtbewohner.
Helene schubste Frank vor. »Tu was!«, fauchte sie.
»Aber was denn?« Er war kreidebleich.
»Mensch, Boss, du kannst uns doch nicht einfach abhängen!«, rief Kevin. Erst jetzt bemerkten er und Bones das Publikum. »Sind wir in einen Deal geplatzt? Sorry, wir …«
Alaska deutete ein Kopfschütteln an und die beiden Leibwächter steckten sofort ihre Waffen weg.
»Ach, da ist ja auch Lucy.« Kevin grinste mich an. »Jetzt verstehe ich.«
Mein Vater erinnerte sich offenbar wieder an seine Rolle als Herr des Hauses und stemmte die Arme in die Seiten. »Lucinda, was ist hier los? Was sind das für Leute?«
»Noch mehr Freunde von dir?«, fragte meine Schwester Helene anzüglich.
Sie musterte Alaska von oben bis unten und spitzte die Lippen. Ihr Lächeln sah gezwungen aus. Wahrscheinlich verglich sie gerade den hochgewachsenen Mann mit den scharfen Zügen und dem Maßanzug mit Frank, der sein geliebtes kariertes Hemd trug. Frank hingegen konnte seine Augen nicht von Alaskas schnittigem Sportwagen nehmen, einem Bugatti Chiron Sauteuer-und-Limitiert-mit-integrierter-Penisverlängerung.
»Hey, hier spielt die Musik!«, zischte Helene ihn an.
Meine Lippen prickelten noch von dem wilden Kuss und mein Herz wummerte so kräftig, dass es kilometerweit zu hören sein musste.
»Das ist Alaska«, sagte ich. »Und ich glaube, er ist hergekommen, um sein Geschenk zu holen.« Ich machte eine Pause. »Mich.«
»Ich glaube, deine Familie hat mich auf ihre Abschussliste gesetzt.« Schmunzelnd lenkte Alaska sein beeindruckendes Testosteron-Gefährt auf die Bundesstraße. »Muss ich mit Auftragskillern rechnen?«
»Meine Familie ist kein Mafia-Clan«, gab ich nervös zurück. »Sie handeln mit gebrauchten Landmaschinen, nicht mit Heroin.«
»Wobei ein Landmaschinenhandel eine ziemlich gute Tarnung wäre. Vielleicht können dein Vater und ich doch noch Freunde werden. Andererseits ist Heroin nur noch in Belgien und den Niederlanden gefragt. Dein Vater sollte sich lieber auf den Handel mit Koks spezialisieren.«
Ich war mir nicht sicher, ob Alaska bloß einen Witz machte. Im Moment war ich mir mit überhaupt nichts sicher, um ehrlich zu sein. Alles war so schnell gegangen und nun fuhren wir durch die verschneite Landschaft fort von meinem Heimatdorf. Einfach so.
Tschüss, Mami, tschüss, Papi, ich hab euch lieb und melde mich demnächst. Ja, auch bei dir, Helene. Ja, auch wenn ich nicht Patentante werden darf.
Das war’s.
Bones und Kevin folgten uns im Rover. Viel Gepäck hatte ich nicht bei mir. Fast alle meine wichtigen Besitztümer befanden sich in dem Mini-Winz-Studenten-Apartment, das ich vor lauter Liebeskummer fast schon vergessen hatte.
»Ich muss mein Apartment ausräumen und kündigen«, sagte ich beklommen. »Oder soll ich …?«
Soll ich es vorsichtshalber behalten?, wollte ich fragen. Es könnte ja sein, dass entweder er oder ich in drei Wochen zu dem Schluss kommt: Hups, da war ich wohl etwas voreilig hinsichtlich der großen Liebe.
Vielleicht ließ Alaska seine Socken herumliegen oder war vor dem ersten Kaffee ein unerträglicher Griesgram. Obwohl – noch griesgrämiger als zu Weihnachten konnte er wirklich nicht werden. Er hatte eine sehr ambivalente Einstellung zu Eichhörnchen, die durch sein Haus rannten, und was seinen Waffenstillstand mit Glitzer-Deko betraf, war ich noch nicht ganz überzeugt.
»Um dein Apartment habe ich mich längst gekümmert«, sagte er in meine Überlegungen hinein. »Deine Sachen sind längst auf dem Anwesen, der Vertrag ist gekündigt.«
Die Worte klangen endgültig, aber als er mich anschaute, sah ich Unsicherheit in seinem Blick. »Ich fackle nicht lange. Wenn ich etwas will, nehme ich es mir, ohne vorher einen Stuhlkreis einzuberufen.«
»In diesem Fall wäre ich der Stuhlkreis gewesen.« Und offenbar das, was er sich zu nehmen gedachte. »Du hättest vorher zumindest … ich weiß nicht … anrufen können.«
Er grinst und räuspert sich. »Hi, hier ist Alaska. Ich weiß, du denkst, ich hätte dich abserviert, aber in Wahrheit drehe ich durch, weil du nicht mehr bei mir bist. Meine Männer stehen kurz davor, mich mit einem Betäubungsgewehr ruhigzustellen. Also habe ich ein paar kräftige Jungs zu deinem Vermieter geschickt, damit er die Tür deines Apartments öffnet und eine zwanglose Kündigung akzeptiert. Falls du also wieder in die Stadt zurückkehrst, wundere dich nicht, wenn jetzt jemand anders in deiner Bude wohnt. So in etwa?«
»Bis auf den Begriff Bude ist es … Nein, es ist immer noch ganz schön schräg.« Ich verdrehte den Knopf an der Jacke, die meine Schwester mir geliehen hatte (aber auch nur, weil sie ihr nicht mehr passte). »Da, wo ich herkomme, lässt man alles etwas langsamer angehen.«
Er zog die Brauen zusammen. »Du meinst, ich hätte deinem Vater erst mal ein Dutzend Ziegen und zwei Milchkühe für dich bieten sollen, bevor ich überhaupt Hey Süße zu dir hätte sagen dürfen?«
»Sagst du ernsthaft Hey Süße zu Frauen?«, entgegnete ich. »Übrigens bin ich mehr wert als zwei Milchkühe. Leg noch ein Ochsengespann obendrauf, dann würde ich vielleicht am Sonntag in der Kirche meinen Schleier lüpfen und dich verschämt anlächeln.«
Er verbiss sich ein Lachen. »Ich lege dir ein ganzes Rittergut zu Füßen, komplett mit Schäferhunden, einem Eichhörnchen und einem Haufen Jungs mit fragwürdigem Benehmen. Bestimmt könnte ich auch noch ein Ochsengespann unterbringen. Nur – was macht man damit?«
»Morgens die Brötchen holen«, sagte ich. »Die Blicke der Leute wären unbezahlbar.«
»Pablo Escobar besaß einen kompletten Privatzoo auf seiner Hazienda«, sinnierte er. »Mit Flusspferden, Elefanten und einer Herde Zebras. Ich sollte wohl mal darüber nachdenken, ein wenig größenwahnsinniger zu werden. Was denkst du?«
Obwohl seine Frage nur im Scherz gemeint war, befielen mich unerwartet tausend Fragen und noch mehr Zweifel. Und zwar alle auf einmal.
Wie konnte ich mit einem Gangsterboss zusammenleben?
Was verstand er überhaupt unter Zusammenleben?
Erwartete er, dass ich ihn bekochte und mit Ja, Herr ansprach?
Hielt er sich ein Dutzend Geliebte in der Stadt, die er reihum beglückte?
Oder folterte er im Keller seines Anwesens unglückliche Feinde?
Was, wenn er abends mit Blut unter den Fingernägeln ins Bett kam?
Was, wenn er nach einem Monat zu der Erkenntnis kam, dass an mir nichts Besonderes war, und mich … mich im tiefen Wald verscharrte?
Alaska fuhr rechts ran. Er holte sein Smartphone hervor, drückte ein paar Buttons und sagte: »Lucy und ich brauchen ein paar Minuten für uns. Fahrt schon voraus … Dann haltet gefälligst einen höflichen Abstand, ihr Spanner!«
Er legte auf und schaute mich an.
Schaute mich einfach nur an.
Wer hätte je gedacht, dass in dunklen Augen so viele Emotionen zu sehen sein könnten? Leider war ich unfähig, sie zu deuten. Vielleicht dachte er darüber nach, die Beifahrertür zu öffnen, mich in den Schnee zu schubsen und dann Gas zu geben. Oder er überlegte, ob ich in den Kofferraum seines schicken Sportflitzers passen würde.
»Du bist die verdammt noch mal schönste Frau der Welt«, sagte er.
»Äh …?«
»Ich kann nicht fassen, dass ich Sam tatsächlich mal damit beauftragt habe, dich umzubr …« Er verschluckte sich an dem letzten Wort und murmelte: »Reiß dich zusammen, Idiot.«
»Alaska?«, flüsterte ich.
Alles in mir drängte danach, ihn zu berühren, aber ich wagte es nicht. Plötzlich hatte ich Angst. Ich warf einen Blick in den Außenspiegel. Der Rover mit Kevin und Bones stand gute zehn Meter hinter uns. Macht lieber das Warnblinklicht an, dachte ich unwillkürlich. Nicht, dass euch noch jemand hinten reinfährt. Sofort kam ich mir albern vor. Diese Männer waren Kriminelle, die für einen Ober-Ober-Kriminellen, nämlich Alaska, arbeiteten. Warnblinklicht – wie putzig.
»Diese Situation ist nicht nur für dich ungewohnt, Lucy.« Er fuhr sich durch das Haar und in dieser fahrigen Geste erkannte ich den Mann wieder, in den ich mich verliebt hatte, ohne es zu wollen. »Ich bin fest entschlossen, richtig mit dir zusammen zu sein. Auf die normale Art. Nur habe ich nicht die geringste Ahnung, was die normale Art ist. Und so wie du mich gerade anschaust, mache ich alles falsch, was man nur falsch machen kann.« Er lacht ein hilfloses Lachen.
»Ich muss also nicht in den Kofferraum?«, war das Einzige, was mir daraufhin einfiel.
Sein Lachen brach unvermittelt ab. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut – dann packte den Kragen meiner Jacke und zog mich zu sich heran. Gleich darauf küsste er mich so wild, so verzweifelt und so …
Mein Gehirn schaltete sich lautlos ab und übergab das Kommando an mein Herz, das direkt explodierte. Das tat es immer, wenn Alaska mich küsste. Es zerplatzte und plötzlich war alles in wunderschönes goldenes Licht getaucht und …
Worüber hatte ich mir eben noch Gedanken gemacht?
»Sieh mich an, Lucy«, sagte er eindringlich. »Sieh dir den Mann an, der dank dir Weihnachten überstanden hat, ohne nennenswerten Schaden anzurichten.« Er hielt inne. »Gut, abgesehen von einem Loch in der Decke seines Hauses. Aber ich will mir nicht vorstellen, den nächsten Winter ohne dich zu verbringen. Und den übernächsten. Falls du sauer bist wegen deines Apartments, dann miete ich dir einfach ein neues, aber du wirst dort nicht wohnen.«
»Werde ich nicht? Welchen Sinn hat denn dann dieses Apartment?«
»Keine Ahnung. Vielleicht fährst du ab und zu dorthin und verstreust eine Handvoll Glitzer.«
»Glitzer geht ganz schlecht aus Teppichfasern raus«, sagte ich konfus.
Er holte tief Luft, blinzelte, dann sagte er: »Wo zum Teufel hast du nur mein ganzes bisheriges Leben gesteckt?«
Kapitel 2 – Alaska
Punkt eins: Ich hatte durchaus eine romantische Ader.
Punkt zwei: Eine sehr kreative romantische Ader.
Punkt drei: Okay, ich übte noch. Aber meinen guten Willen musste man anerkennen, oder nicht?
Auf dem Weg zum Hof von Lucys Eltern – sie wohnten am anderen Ende des Landes in einer Gegend, wo man im Frühjahr um Maibäume tanzt und im Winter wehrlose Nadelgehölze aus dem Wald schleppt – hatte ich Hound angerufen und ihm aufgetragen, sämtliche Rosenblätter im Umkreis von hundert Kilometern aufzukaufen.
Rote Rosenblätter.
Ich war sicher, dass ich rote Rosenblätter gesagt hatte.
Oder vielleicht doch eher: »Irgendwas Romantisches, auf das Frauen abfahren. Was nimmt man da? Irgendwas Rotes, oder?«
Danach hatte ich Gas gegeben, um Lucy in echter Prinz-rettet-Prinzessin-und-reitet-mit-ihr-in-den-Sonnenuntergang-Manier zu holen und auf mein Schloss zu entführen.
Kurz, bevor ich mein Ziel erreichte, rief Hound an, um zu vermelden: »Auftrag ausgeführt, Boss. Ich habe acht Eimer voll mit dem Zeug bekommen.«
»Gut, dann verstreu es überall im Haus.«
»Bist du sicher, Boss?«, fragte er zögernd.
»Tu, was ich sage!«
Die Sache mit Lucy lief nicht ganz so glatt, wie ich gedacht hatte.
Ich hatte sie überrumpelt.
Mich zwar auch, aber das war eine Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Es war nun mal so: Sie gehörte jetzt zu mir. Punkt.
Doch auf dem Rückweg sah ich, wie mehr und mehr Zweifel hinter ihrer Stirn aufstiegen. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch befohlen, sie zu … zu entsorgen. Sorry, es war ein Reflex. Probleme löste man nun mal am besten durch Entsorgung. So hatte ich es mein ganzes Leben lang gehalten.
Nur, dass Lucy kein Problem war, sondern vielmehr das fehlende Puzzlestück meines Lebens, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass ich es brauche, um mich ganz zu fühlen. Ich schwebte zwei Meter über dem Erdboden (was beim Autofahren zugegebenermaßen etwas suboptimal ist) und musste sie immer wieder anschauen.
Sie saß neben mir. Unfassbar. Sie war freiwillig mitgekommen. Wahnsinn. Sie sah aus, als bereute sie es schon jetzt.
Mist, Mist, Mist.
Mindestens dreimal hielt ich unterwegs an, um sie zu küssen. Es wäre klüger gewesen, irgendwas Sinnvolles zu sagen. Etwas in der Richtung wie: Für dich werde ich ein besserer Mensch sein und nie wieder Kokain aus Peru über die Brasilien-Route ins Land schmuggeln. Ich werde Eichhörnchenfutter kaufen und niemandem mehr wehtun.
Aber so lief es nicht. Ich konnte keinen Schalter in mir umlegen und ein neuer Alaska werden. Wollte ich auch nicht. Sehr viele Leute würden auf der Stelle mit mir tauschen, wenn sie könnten. Es war sehr okay, Alaska zu sein. Die richtigen Menschen bekamen Gänsehaut, wenn sie meinen Namen hörten, alle anderen wussten nicht einmal, dass es mich gab.
Dabei unterschied sich der Job als Drogenboss nicht sonderlich von dem eines CEO. Man trug einen Anzug (von Tony Lutwyche in der Sawile Row), erledigte bürokratischen Kram (Zollbeamte bestechen, Geld waschen, Richter bedrohen) und kümmerte sich um Prozessoptimierung (Präparieren von Schiffscontainern, Einrichten von neuen Zwischenlagern, Austüfteln neuer Routen). Man verhandelte mit anderen Patróns (über EncroChat, niemals über WhatsApp!), man warf Gegenstände an die Wand und schüchterte seine Angestellten ein.
Genau genommen war es sogar ein recht langweiliger Job. Aber er hatte seine Herausforderungen. Die Verhandlungspartner sagten nicht: »Och, wie schade«, wenn man ihr lächerliches Angebot ablehnte, sondern schickten möglicherweise jemanden aus, der eine Bombe unter deinen limitierten Bugatti Chiron platzierte. Booom – und schon gab es nur noch 29 Exemplare dieses rollenden Schmuckstücks.
»Ich bin reich«, sagte ich zu Lucy, als wir durch das Tor meines Anwesens fuhren. »Stinkreich. Geradezu obszön reich. Ist das ein Problem für dich?«
Normalerweise erwarten wir alle an dieser Stelle ein verblüfftes Natürlich nicht! als Antwort. Aber diese Frage war an Lucy gerichtet. Engelshaar und Glitzerkram. Ihretwegen hatte ich ein Loch in meine Stuckdecke geschossen und einen Weihnachtsbaum in meinem Haus geduldet.
»Wenn du damit andeuten willst, dass du alles aus dem Weg kaufst, das dir nicht passt, dann möglicherweise ja«, sagte sie mit gekrauster Nase. »Diese Apartment-Geschichte beispielsweise … Es war nur ein Wohnklo mit Hinterhofaussicht, aber es war mein Wohnklo. Verstehst du?«
Nicht wirklich, dachte ich und sagte: »Natürlich. Unabhängigkeit und so weiter.«
»Genau.« Sie warf einen Blick zurück auf das Tor, das sich hinter uns schloss.
Ich brachte den Wagen vor den Stufen zum Portal stehen und sah sofort, dass Hound meinen Auftrag gewissenhaft erfüllt hatte – in gewisser Weise.
»Wieso liegen überall Erdbeeren verstreut?«, fragte sie stirnrunzelnd.
Ich presste die Lippen aufeinander. Es wäre einfach, Hound die Schuld zuzuschieben, aber auch feige. »Erdbeeren sind romantisch«, brummte ich. »Frauen lieben Erdbeeren.«
Sie sah mich mit erhobenen Brauen an. »In Sekt, ja. Oder im Schokoladenbrunnen. Aber vor dem Haus verstreut? Die kann doch niemand mehr essen.«
Auf dem Weg ins Haus versuchten wir, möglichst wenig Erdbeeren zu zertreten, aber Hound hatte ganze Arbeit geleistet. Die Eingangsstufen sahen innerhalb kürzester Zeit aus, als hätte ein blutiges Gemetzel stattgefunden.
»Was für eine Verschwendung«, brummte Bones hinter uns.
Kevin sagte fröhlich: »Ich bin allergisch gegen Erdbeeren. Nehmt das, ihr Scheiß-Früchte!« Er sprang mit seinen schweren Schnürstiefeln umher und richtete noch mehr Sauerei an.
»Du weißt hoffentlich, was du gleich zu tun hast«, sagte ich zu ihm.
»Na klar, Boss! Ich habe für heute ein richtig schönes Gulasch auf dem Plan. Nach dem Rezept meiner Oma …«
»Ich erklär ihm, wie man die Sauerei wieder wegmacht, Boss.« Bones seufzte. »Das wird ein Spaß werden. So, wie ich Hound kenne, wird es drinnen nicht viel besser aussehen.«
Es sah sogar noch schlimmer aus. Anscheinend hatte Hound einen ganzen LKW-Kipper voller Erdbeeren kommen lassen und die Früchte in der gesamten Eingangshalle und die Treppe hinauf bis zu meinem Schlafzimmer verteilt. So, wie ich es ihm aufgetragen hatte, auch wenn ich duftende Rosenblätter im Sinn hatte. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie meine seidene Bettwäsche aussah. Hoffentlich kam Lucy nicht auf die Idee zu glauben, ich hätte ihre Vorgängerin in dem Bett gemeuchelt und im Wald verbuddelt.
Es gab übrigens keine Vorgängerin. Versteht ihr jetzt, warum ich ein bisschen nervös war?
Zu spät fiel mir ein, dass ich sie über die Schwelle hätte tragen sollen, statt einen grobmotorischen Killer damit zu beauftragen, romantisches rotes Zeug in meinem Haus zu verteilen.
»Sei froh, Boss, dass er keine Gedärme genommen hat«, murmelte Bones und schob mit dem Fuß vorsichtig Erdbeeren beiseite, um uns auf diese Weise einen Pfad zu schaffen. »Hound ist super an der Waffe, aber in anderen Lebenslagen völlig überfordert.«
»Wir könnten uns am Treppengeländer hinauf in den ersten Stock hangeln«, schlug Lucy vor, die ein sehr komisches Gesicht machte. Wahrscheinlich dachte sie darüber nach, wie sie am unauffälligsten von hier flüchten konnte.
Erst, als sie in Lachen ausbrach, verstand ich, dass sie sich die ganze Zeit hatte zusammenreißen müssen.
»So lustig ist das nun auch wieder nicht«, murrte ich. »Wenn die Erdbeerflecken nun die Perserteppiche versauen? Jeder wird denken, dass ich in meinem Haus Leute umbringe.«
Und schon konnte ich auch nicht mehr ernst bleiben. Ich stellte mir vor, wie ein Ermittlerteam Proben für eine DNA-Untersuchung entnahm und die Cops anschließend entgeistert auf das Ergebnis starrte. Ich würde als Alaska der Erdbeer-Schlächter in die Geschichtsbücher eingehen.
Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass alle anderen verstummt waren und offenbar dachten, ich hätte den Verstand verloren.
Lachend wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel. »Jetzt bin ich schuld daran, dass im ganzen Land eine Erdbeer-Knappheit ausgebrochen ist.«
»Erdbeeren im Winter sind sowieso dekadent«, sagte Lucy. »Ähm, wenn ich das richtig verstanden habe, wurden die Beeren aus Romantik-Gründen im ganzen Haus verteilt?«
Aus dem Obergeschoss war Hounds Stimme zu hören. »Der Boss hat gesagt: Besorg mir romantisches Zeug. So viel wie möglich. Irgendetwas Rotes.«
»Rosenblätter«, knurrte ich. »Ich dachte an Rosenblätter.«
»Das hättest du mir aber sagen müssen, Boss. Mit solchen Dingen kenne ich mich nicht aus. Ich stecke meinen Miezen ein paar Scheine zu, wenn mir romantisch zumute ist.
»Wo steckst du überhaupt?«, rief ich, denn ich konnte Hound nicht sehen.
»Hier oben vor deiner Schlafzimmertür. Ich habe mich … äh, ich habe mich mit Erdbeeren umzingelt und wollte keine Sauerei anrichten, also dachte ich …«
»Schieb sie einfach beiseite, Idiot!«, brüllte Bones und sah mich entschuldigend an. »Er verbringt zu viel Zeit mit Kevin.«
»Was soll das denn heißen?«, mokierte sich Kevin hinter uns, der Lucys spärliches Gepäck ins Haus getragen hatte.
»Und wo ist eigentlich Sam?«, fragte ich, als ich mich endlich wieder unter Kontrolle hatte.
»Im Wald«, rief Hound von oben. »Er hat ein Gewehr mitgenommen. Hat gesagt, dass er für Lucy eine Nordmanntanne schießen will. Zur Feier des Tages oder so.«
Lucy sah mich an. Ich sah sie an und zuckte die Achseln.
»Er war sturzbetrunken«, fügte Hound etwas leiser hinzu. »Von der Medizin nach Lucys Rezept.«
»Also bin ich jetzt schuld daran, dass Sam eine Tanne erschießen will?« Sie krauste die Nase.
Ihre Beklommenheit war gänzlich verschwunden und ich verspürte Erleichterung. Für diesen süßen Gesichtsausdruck würde ich sogar einen See aus Kirschsaft auf dem edlen Parkettboden in Kauf nehmen.
Anschließend konnte ich immer noch jemanden dafür büßen lassen.
Kapitel 3 – Lucy
Draußen tropfte es von den Dachvorsprüngen und den Bäumen. In den Regenrinnen gurgelte es. Die herrliche weiße Pracht löste sich unter einem Regenschleier in graue Pfützen auf. Raben schrieen im Wald.
Ich saß auf der breiten, gepolsterten Fensterbank der Bibliothek, mit einem Buch auf dem Schoß, das so langweilig war, dass man dafür einen eigenen Begriff erfinden musste. Milliardär mit Sixpack verliebt sich in eine arme Cupcake-Bäckerin: Das war die gesamte Geschichte, für die die Autorin satte 550 Seiten benötigt hatte. Immerhin war ein Cupcake-Rezept im Buch enthalten.
Draußen stapften Hound und Bones mit den beiden Schäferhunden über die durchweichte Wiese. Die Männer trugen Gummistiefel, die Hunde Schlamm. Trotz des tristen Wetters hatten sie gute Laune. Die Schäferhunde hüpften ausgelassen um sie herum und Hound erzählte etwas, das Bones zum Lachen brachte.
Alaska war mit Sam weggefahren. Er hatte ein Meeting – ja, okay, ein konspiratives Gangster-Treffen – in Steenport oben an der Küste. Die Leute, mit denen er verhandeln wollte, nannten sich die Wölfe.
Warum mussten Gangs sich immer solche martialischen Namen geben? Bloody Reapers und Höllenbrüder und Fiese Fürsten der Finsternis? Warum nicht mal was Nettes wie … wie Sunrise Bumble Bees beispielsweise? Mit einer Bande, die Hummeln beim Sonnenaufgang hieß, würde man doch viel lieber Geschäfte machen. Also, ich jedenfalls.
Jedenfalls machte ich mir ein wenig Sorgen. Ich hatte nicht so richtig zu Ende bedacht, was es bedeutete, mit einem Gangsterboss zusammen zu sein, auch wenn Alaska mehrfach beteuert hatte, dass das kriminelle Business im Grunde total langweilig war. Meetings, Verhandlungen und Organisatorisches. Gut, wenn ein Mitarbeiter seinen Job vermasselte, sah die Abmahnung zwar etwas anders aus – nämlich viel endgültiger –, aber im Großen und Ganzen ging es um Zahlen und Marktmacht. Nur dass man statt E-Autos oder veganer Kosmetik halt illegale Waren importierte, weiterverarbeitete und unter die Leute brachte.
Vielleicht hießen die Wölfe ja Wölfe, weil sie Werwölfe waren? Vielleicht war gerade Vollmond und sie fraßen in genau diesem Augenblick Alaska auf?
Oh Gott, ich brauchte Ablenkung!
Ich sprang von der Fensterbank und lief mit dem Sixpack-Millionär unter dem Arm in die Küche, wo Kevin damit beschäftigt war, Karotten in winzigkleine Würfelchen zu schneiden. Er war offiziell zum Koch mit Bewaffnung befördert worden, was bedeutete, dass er unter der Schürze grundsätzlich seine Flecktarnhose mit Pistolenholster trug und mit Armeestiefeln durch die Küche trampelte. Alaska war verblüfft gewesen, dass seine Männer abgesehen von ihrer Leibwächter-Funktion richtige Menschen waren mit Hobbys, Macken und Marotten. Kevin jedenfalls, den alle nur den Terminator nannten, weil er absolut nicht so aussieht, wie man sich einen Durchschnitts-Kevin vorstellte, kochte für sein Leben gern, und zwar richtig gut. Wenn er nicht kochte, stemmte er Gewichte. Ich vermutete, er hatte sich die breiten Schultern nur deshalb antrainiert, weil er Kevin hieß. Mit diesem Vornamen blieb einem ja gar nichts anderes übrig.
Ich als getaufte Lucinda konnte sein Dilemma nachempfinden. Lucindas trugen bauschige Kleider mit Rüschen am üppigen Dekolleté, pressten Blüten zwischen den Seiten ihres Tagebuchs und lächelten, bis der Arzt kam.
»Kann ich dir helfen?«, fragte ich Kevin. »Was kochst du überhaupt?«
»Knusprige Möhrentarte mit Ricotta-Sahne-Sauce und einem Ring aus klitzekleinen Würstchen.« Er wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Die Würstchen gehören eigentlich nicht zum Rezept, aber wenn die Jungs kein Fleisch bekommen, kacken sie mir in die Schuhe. Kannst du mir mal den Blätterteig aus dem Kühlschrank geben?«
Ich kam seiner Bitte nach. »Du meinst, die Hunde kacken dir in die Schuhe.«
»Nein, Bones und Sam und die anderen. Für die Hunde koche ich Pansen mit Reis. Die fressen anstandslos alles, was ich in ihre Näpfe tu. Es sind liebe Tiere.«
»Ach, das riecht hier so komisch.«
»Nee, das ist der Ricotta«, brummte Kevin und machte sich daran, den Blätterteig in einer Springform zu verteilen. Dazu benutzte er seine Fäuste und ein paar Drohungen, was dem Blätterteig jedoch schnuppe war. »Wie geht es in deinem Atelier voran? Hast du schon was gemalt?«
Mit einem Kopfschütteln sammelte ich die benutzten Utensilien ein und putzte die gigantische Kücheninsel. Kevin liebte es zwar, zu kochen, aber Saubermachen war unter seiner Würde und die Reinigungsleute kamen erst morgen früh.
»Warum nicht?«, bohrte Kevin nach. »Du bist doch Künstlerin. Oder kannst du gar nicht malen?« Er grinste mich an. »Das macht nix, ehrlich. Du kannst auch einfach Nudeln auf ein Stück Pappe kleben, sie bunt anpinseln und dann brauchst du nur noch einen coolen Titel, den niemand versteht. So funktioniert Kunst.«
»Du kennst dich aus, hm?«
»Ich bin quasi Experte. Als Kind war ich mal im Museum. Da hing so ein Gekrakel an den Wänden, das aussah, als wäre ein Eichhörnchen mit dreckigen Pfoten über eine Leinwand gerannt.« Er heizte einen der beiden riesigen Backöfen vor. »Ja, ich würde durchaus sagen, ich kenne mich aus. Wenn man was auf dem Bild erkennen kann, ist es Kunst.«
»Bei mir kann man sogar sehr viel erkennen«, sagte ich. »Meine Bilder sind realistisch und stimmungsvoll.«
»Na, das ist doch super. Also kannst du doch Kunst.«
»Leider ist es Kitsch. Hat jedenfalls mein Professor – Ex-Professor – gesagt. Darum muss ich das Studium an den Nagel hängen.«
»Ach, der Heini hat doch keine Ahnung, wovon er spricht.« Kevin schnaubte. »Der Boss sagt, du wärst richtig gut, und der muss es schließlich wissen. Er besitzt jede Menge Gemälde und Skulpturen. Außerdem hat er sich deine Mappe abgesehen. Ziemlich oft sogar. Er sagt, du bist gut, also bist du gut.«
Damit war für Kevin das Thema erledigt. Zufrieden widmete er sich der Herstellung seiner Ricotta-Sahne-Sauce.
Ich hingegen verspürte immer noch brennende Scham bei der Erinnerung an Professor Ahrendts vernichtendes Urteil zu meiner Semesterarbeit. Kitsch. Auch wenn Alaska mich eindringlich vom Gegenteil zu überzeugen versucht hatte, glaubte ich doch nicht mehr, dass ich zur ernsthaften Künstlerin berufen war. Vielleicht würde ich eines Tages wieder knuffige Kühe und malerische Margeritenfelder für Produktverpackungen zeichnen, aber das kreative Feuer in meinem Innern war irgendwie erloschen.
Als Alaska mir stolz das Atelier präsentiert hatte, das er für mich im Turm des Südflügels hatte einrichten lassen, wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. In dem lichtdurchfluteten runden Raum gab es alles, was sich ein Künstler nur wünschen konnte: zwei stabile Staffeleien und in der Mitte des Raumes einen großen Werktisch mit Tageslichtlampen, dazu einen Papierschrank voller Aquarell- und Büttenpapier, Regale mit Öl- und Acrylfarben von bester Qualität, Pastellkreiden und handgefertigte Pinsel, Apothekengläser voller feinster Pigmente und Flaschen mit Leinöl und Firnis. Im Nebenraum lagerten Leinwände verschiedenster Größen. Doch als er einen Schalter betätigte und unter der Decke tausend kleine goldene Lichter auffunkelten, musste ich mit aller Kraft um meine Beherrschung kämpfen.
»In den Gläsern dort drüben findest du Goldpulver und all die anderen glitzernden Sachen, die du so magst.« Sein hoffnungsvolles Lächeln erstarb, als er mein Gesicht betrachtete. »Bitte sag nicht, dass du überraschend deine Liebe für aschgraue Trübsinns-Gemälde entdeckt und dein verrücktes, funkelndes Gemüt verloren hast.«
Und schon war es vorbei mit meiner Beherrschung. Alaska ahnte, was in mir vorging. Er schloss die Tür zum Atelier, trug mich ins Schlafzimmer und sorgte dafür, dass ich in den nächsten Stunden alles andere außer ihn vergaß. Seitdem haben wir kein Wort mehr über das Atelier verloren. Aber das Thema ist zu dem großen, rosa Elefant mitten im Raum geworden, den jeder zu ignorieren versucht.
Heute war seit meinem Einzug in das Rittergut der erste Tag, an dem Alaska nicht hier war. Er musste sich um seine Geschäfte kümmern, die er in den letzten drei Wochen vernachlässigt hatte – meinetwegen. Wir brauchten diese Zeit, um uns kennenzulernen. Schließlich hatten wir vorher überhaupt keine Dates gehabt, keine Spaziergänge und auch keine Phase der stundenlangen, abendlichen Telefonate, in denen er mich fragte: »Was hast du gerade an?«
Alaska war eine spannende, impulsive Persönlichkeit und unendlich liebenswert. Letzteres wusste aber niemand außer mir, denn für alle anderen war er immer noch Alaska, der eiskalte Drogenbaron mit einer Aversion gegen alles Warmherzige. Er war so sehr daran gewöhnt, als einschüchternder, skrupelloser Grinch aufzutreten, dass es ihm schwerfiel, einfach mal zu entspannen und Dinge zu genießen. Erst recht, wenn sie glitzerten. Doch wenn wir beide allein waren, zeigte er eine völlig andere Seite von sich. Eine, die er so lange tief in sich verborgen hatte, dass er erst noch lernen musste, damit umzugehen.
Die Sache mit der Romantik beispielsweise. Müsste man ihm ein Arbeitszeugnis ausstellen, stünde darin: Er bemühte sich stets, den Anforderungen einer romantischen Beziehung gerecht zu werden.
Hätte ich mich nicht schon vorher Hals über Kopf in ihn verliebt, dann spätestens nach dem Erdbeer-Spektakel, als er erst peinlich berührt aussah, dann sein Ich-muss-jetzt-dringend-jemanden-töten-Gesicht aufsetzte und gleich darauf in Gelächter ausbrach. So sieht Alaskas Romantik aus.
Er hat sich übrigens vehement gegen eine Lichterkette im Schlafzimmer ausgesprochen. Und auch dafür liebte ich ihn, auch wenn das bescheuert klang.
»Was ist das für ein Buch in deiner Hand?« Kevins Frage holte mich aus meinen Gedanken zurück in die Gegenwart. »Ein Kochbuch?«
Ich hielt den Schmöker hoch, damit er das Cover mit dem halbnackten Milliardär betrachten konnte. »Es ist nur ein einziges Cupcake-Rezept darin.«
»Muss ein sehr kompliziertes Rezept sein, so dick, wie das Buch ist.« Kevin betrachtete das Cover-Modell kritisch. »Der Brustmuskel ist übertrainiert und der Trizeps sieht verglichen mit dem Bizeps zu dünn aus. Ich wette, der Kerl trainiert nur für die Kamera. Solche Typen schicke ich mit einem einzigen Faustschlag ins Jenseits.«
Das glaubte ich ihm sogar. Kevin mochte keinen Schulabschluss haben, aber er war Experte im Leute-ins-Jenseits-schicken.
Das Festnetzttelefon klingelte.
Kevin stöhnte. »Wetten, dass Sam mir Bescheid geben will, dass sie Pizza zum Abendessen mitbringen?« Mit seinen Ricotta-Fingern nahm er das Telefon aus der Halterung und meckerte los: »Ich stehe seit einer Stunde in der Küche, um für euch zu kochen …! Oh, ach so … Ja, einen Moment.« Er hielt mir das Telefon entgegen. »Ist für dich.«
Meine Eltern, dachte ich. Oder Helene. Seit sie von Alaska wusste, war sie ziemlich aufdringlich geworden. Ständig rief sie an und träufelte mir klebrige Freundlichkeiten ins Ohr. Angeblich vermisste sie mich ganz furchtbar (was während meines Studiums nicht der Fall gewesen war) und ob Frank bei mir auch immer so ein Langweiler gewesen sei. Wann sie mich und Alaska denn mal auf seinem Anwesen besuchen dürfe und wie sie ihn mir am besten ausspannen könne.
Gut, das letzte hatte ich mir ausgedacht.
Alaska hatte keine hohe Meinung von Helene und er sah nicht ein, Nettigkeit zu heucheln, nur weil sie meine Schwester war.
Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung war nicht Helenes.
»Ja … Äh … Hier ist Professor Ahrendt.«
Es folgte Stille.
Verblüfft starrte ich den Hörer in meiner Hand an, als könnte er mir weiterhelfen. Endlich erwiderte ich höflich: »Guten Tag, Professor.«
»Tja … Wie Sie sicherlich wissen, beginnt am 25. Januar das Sommersemester …«
»Oh verdammt!«, entfuhr es mir. »Ich habe die Exmatrikulation vergessen! Kann ich das noch nachholen? Wegen der Studiengebühren. Das kann man doch per E-Mail machen, oder? Muss ich ein kompliziertes Formular ausfüllen?«
»Äh … Sie wollen das Studium doch nicht etwa abbrechen?«
Blödmann. »Ich habe den Kurs bei Ihnen nicht bestanden«, erinnerte ich ihn überaus höflich. »Damit erfülle ich auch nicht mehr die Voraussetzungen für das Stipendium.«
»Ja … Nein … Hmm … Ich …«
Im Hintergrund waren Geräusche zu hören. Ein Rummsen und Klirren, eine leise, tiefe Männerstimme, ein unterdrückter Schrei. Dann redete Ahrendt hastig weiter: »Ich habe noch mal über die Beurteilung nachgedacht. Kunst ist, wie Sie wissen, eine komplexe … AUA!«
Ich musste kurz den Hörer vom Ohr nehmen. »Professor? Geht es Ihnen gut?«
»Alles … bestens«, keuchte er. »Nun … Ich will sagen, Kunst darf nicht in Schubladen einsortiert und unterdrückt werden. Es ist … Jeff Koons beispielsweise hat man auch als kitschig bezeichnet, doch nun stellt man ihn in Museen aus … Äh, ja … Bitte nicht!« Die beiden letzten Worte quietschte er heraus.
»Professor?«, fragte ich beunruhigt.
»Also, ich habe Ihre Note geändert. Sie haben bestanden. Ihr Werk ist … außerordentlich positiv und ironisch zugleich. Sie … Sie scheuen nicht davor zurück, mit Klischees zu spielen und … und … und das ist sehr mutig, ja.« Er wimmerte. »Ich freue mich, Sie im nächsten Semester wiederzusehen.«
Klick – Anruf beendet.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Kevin. »Du guckst so verstört.«
»Ich dachte, Alaska wäre nach Steenport gefahren, um mit einem Rudel Werwölfe ein Meeting abzuhalten.«
»Das sind keine Werwölfe, sondern ganz normale Mörder und Drogenhändler.«
»Und er hat ganz sicher keinen Abstecher zu meinem Professor gemacht, um ihm Schmerzen zuzufügen?«
»Nicht, dass ich wüsste«, murmelte Kevin, drehte mir den Rücken zu und verteilte seine Möhrenwürfelchen so gewissenhaft auf der Tarte, als würde er mit Nitroglyzerin hantieren.
»Ich bin damit nicht einverstanden«, knurrte ich.
»Jetzt sag nicht, dass du keine Möhren magst. Das hättest du mir vorher sagen …«
»Ich meine: Damit, dass Alaska meinen Professor zwingt, die Note zu revidieren.«
»Revi … was? Komm schon! Der Heini hat offensichtlich keine Ahnung von Kunst. Er sollte dankbar sein, dass ihm jemand Nachhilfe gibt. Kannst du den Jungs Bescheid sagen, dass es in einer Stunde Essen gibt? Und sie sollen den Hunden die Pfoten saubermachen, bevor sie sie ins Haus lassen.«
Alaska und Sam kehrten am frühen Abend zurück. Die Außenlichter verwandelten den Regen in einen goldenen Schleier, und ich hatte im Kamin des Speiseraums ein Feuer angezündet, das eine heimelige Wärme verbreitete. Teller und Gläser waren auf dem Tisch verteilt und aus purem Trotz hatte ich überall Glitzerkram dekoriert.
Ja, ich war sauer. Und beunruhigt, denn ich wollte nicht mit Alaska streiten. Aber er konnte nicht einfach hingehen und Menschen unter Druck setzen, nur weil ihm etwas nicht in den Kram passte.
Nervös saß ich in der Eingangshalle auf der Treppe, die sich elegant ins Obergeschoss schwang. Aus der offen stehenden Tür zur Küche waberte köstlicher Duft durchs Haus, doch ich hatte einen Klumpen im Magen; mein Hunger war wie weggeblasen.
Ich hörte, wie Kevin in der Küche fluchte: »Scheiße die Tarte ist noch viel zu heiß! Da verbrennt man sich ja den Mund.«
»Stell sie zum Abkühlen kurz nach draußen«, schlug Hound vor. Er war vorhin mit den sauber geschrubbten Hunden und einem Mordshunger ins Haus gekommen und lungerte nun in der Küche herum.
Als die Eingangstür aufschwang und Alaska einen Schwall nasskalte Winterluft ins Haus brachte, schlug mein Herz schneller. Daran war allein sein Anblick schuld. Der schwarze Mantel umschmeichelte seine hochgewachsene Gestalt und der Kronleuchter zauberte Silbersterne auf sein feuchtes Haar. Achtlos zog er die Lederhandschuhe von den Fingern und warf sie auf ein antikes Möbel. Er entdeckte mich und ein Lächeln brach seine harten Züge auf.
»Wie ich höre, hattest du einen interessanten Tag voller Kultur«, sagte ich kühl.
Statt ertappt auszusehen, wurde sein Lächeln sogar noch breiter. »Und wie ich mitbekommen habe, hattest du ein interessantes Telefonat mit einem arroganten Ignoranten. Möchtest du mir Gegenstände an den Kopf werfen?«
»Nein, vorerst belasse ich es bei Goldglitzer-Dekoration.«
Hinter ihm betrat Sam das Haus. Er zwinkerte mir zu und eilte davon, der Feigling.
Alaska streifte seinen Mantel ab und hängte ihn über das Treppengeländer, bevor er die drei Stufen zu mir herauf kam und sich neben mich setzte.
»Dein Professor ist ein bornierter Arsch«, sagte er.
»Das gibt dir nicht das Recht, ihn einzuschüchtern und zu zwingen, meine Note zu ändern.«
»Ich warte grundsätzlich nicht, bis mir jemand irgendein Recht zu irgendwas gibt, Lucy. Ich nehme es mir. Dieser Kerl hat nicht verstanden, was seine Aufgabe ist. Er soll Talente fördern und ermutigen. Stattdessen hat er dich niedergemacht, weil deine Arbeit nicht seinem persönlichen Geschmack entsprochen hat.« Sanft stieß Alaska mich mit der Schulter an. »Ich habe eine Skulptur von Jeff Koons ersteigert. Sie wird nächste Woche geliefert.«
»Aha«, sagte ich nur, weil er mir wieder einmal den Wind aus den Segeln genommen hatte.
»Sie ist goldfarben und sie glitzert«, fügte er hinzu. »Es tut in den Augen weh, wenn man sie anschaut, aber der Kurator behauptet, dass sie in drei Jahren das Zehnfache wert sein wird. Wenn du willst, stellen wir sie in der Bibliothek auf und ich verspreche dir, ich werde kein schwarzes Tuch darüber werfen, um sie zu verdecken.«
Als ich nichts sagte, brummte er: »Hör mal, ich werde mich nicht entschuldigen. Die Koons-Skulptur ist ein Versöhnungsangebot. Besser bekomme ich das nicht hin.«
»Ich will nicht, dass du meine Kämpfe für mich kämpfst«, sagte ich. »Es wäre meine Aufgabe gewesen, mich mit Ahrendt auseinanderzusetzen.«
»Aber du hättest es nicht getan, weil du jedes Wort aus seinem dummen akademischen Mund ernst genommen und dich selbst fast schon aufgegeben hast. Du darfst der Meinung anderer Menschen keine Macht über dich geben, Lucy. Nicht einmal meine Meinung sollte dich von irgendetwas abhalten.« Er klopfte sich auf die Brust. »Meine Aufgabe als der Mann an deiner Seite ist es, deine Träume lebendig zu halten und dich bei deren Erfüllung zu unterstützen.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin gut im Einschüchtern. Ich bin nicht gut darin, diese Traurigkeit in deinen Augen zu ertragen. Ich möchte, dass du malst.«
»Aber wenn es stimmt, was er sagt? Wenn ich gar nicht in der Lage bin, richtige Kunst zu erschaffen?«
Er umfasste mein Kinn und sah mich an. Zwei Falten gruben sich zwischen seine Brauen. »Ich weiß ja nicht, wie man das bei euch nennt, aber du hast dein größtes Kunstwerk bereits vollendet. Du hast irgendwas mit mir gemacht, das ich nicht verstehe, aber ich bin der verflucht glücklichste Mann auf Erden.« Seine Lippen berühren meine. »Das ist deine Superkraft, Lucy: Du machst auf deine ganz besondere Art die Welt ein wenig wärmer und strahlender. Und zu dieser Art gehören auch deine Bilder.«
Ich inhalierte jedes einzelne Wort, das er sagte. Er klang so ernst und überzeugt, dass meine Sicht verschwamm. Genau das hatte ich gebraucht – einen Menschen, der mich so nahm, wie ich war und mich stark machte.
»Nachdem wir den unangenehmen Teil hinter uns gebracht haben, ohne dass du mir an die Kehle gesprungen bist …«, er legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Verdammt noch mal, küss mich oder ich werde auf dieser Treppe hier sterben!«
Wieder spürte dieses wunderbare Bersten in meiner Brust, als mein Herz riesengroß wurde und platzte. Ein Tsunami der unterschiedlichsten Emotionen raste durch meinen Körper und entfachte ein prasselndes Feuer in meinen Eingeweiden. Meine Lippen fanden seine, meine Finger gruben sich in sein Haar und unsere Zungen begannen, gierig umeinander zu tanzen. Er stöhnte leise in meinen Mund. Irgendwie saß ich plötzlich rittlings auf seinem Schoß und seinem Hemd fehlten ein paar Knöpfe.
Dass sich jemand mehrfach räusperte, bekam ich erst mit, als Alaska widerstrebend von mir abließ. Er sah an mir vorbei, seine Augen waren verschleiert, seine Brust hob und senkte sich schnell. Ich konnte seinen kräftigen Herzschlag spüren.
»Kevin«, knurrte er. »Siehst du nicht, dass du störst? Jetzt muss ich dich tö…«
Schnell legte ich einen Finger auf seine herrlich geschwollenen Lippen. »Das böse Wort mit T benutzen wir in diesem Haus nicht.«
»Ich will es nicht benutzen, sondern umsetzen, und zwar an dem da.« Er funkelte seinen Leibwächter an. »Sagt dir der Begriff Privatsphäre etwas, Kevin?«
Beschämt sah Kevin zu Boden. »Sorry, Boss. Ich wollte nur … Es gibt ein kleines Problem mit …«
Aus der Küche war ein Klirren zu hören. Ein Hund bellte und Sam brüllte etwas nicht Jugendfreies.
Kevin trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe eine Möhrentarte gemacht, Boss. Sie ist echt gut geworden und … und … und …«
»Und was?«, grollte Alaska, ohne mich loszulassen.
»Und … und … Ich habe sie zum Abkühlen kurz nach draußen gestellt und … und …«
»Treib es in die Ecke!«, schrie Hound.
»Hilfe, es hat mich angesprungen!«, kreischte Bones.
Ein kleines braunpelziges Etwas flitzte aus der Küche und huschte an einer Ritterrüstung hinauf. Eine Hellebarde krachte zu Boden. Kläffend schlitterten die Hunde quer durch die Eingangshalle, gefolgt von Hound, Bones und Sam.
»Wo ist es? Wo ist es?«, brüllte Sam.
»Da! Es hangelt sich zum Kronleuchter hoch!«
»Eichhörnchen?«, fragte Alaska sachlich.
Kevin nickte bedröppelt. »Eichhörnchen. Es ist in die Tarte gesprungen, hat sich die Füße verbrannt und ist dann panisch ins Haus …«
»Ach, scheiß drauf«, sagte Alaska, packte meinen Hinterkopf und machte dort weiter, wo wir unterbrochen worden waren.