Corona hat mir (und vielen anderen) in den letzten Jahren einen Strich durch meine Nomaden-Reisepläne gemacht, sodass ich erst jetzt wieder die Möglichkeit hatte, den Jahreswechsel anderswo erleben zu können.
Auch diesmal zog es mich nach Kambodscha. Das Land ist nur halb so groß wie Deutschland, ziemlich arm und liegt strategisch zwischen Thailand und Vietnam. In Europa weiß heute kaum noch jemand, dass von hier aus einst das gigantische Imperium der Khmer über fast ganz Südostasien herrschte und unvergleichliche Bau- und Ingenieurskunst hervorbrachte. Von diesen Zeiten zeugt heute nur noch das Weltkulturerbe Angkor, eine königliche Stadt, die über eine Million Million Menschen und mehr als 1000 Tempel beherbergte (Angkor Wat ist der berühmteste dieser Tempel . »Wat« bedeutet »Tempel, und »Angkor« ist das Khmer-Wort für »Stadt«).
Das Imperium ging unter, das große Land der Khmer wurde von Siam (heute Thailand) überrannt; später kamen die französischen Kolonialherren, dann die USA, die das neutrale, verarmte Kambodia in den Vietnamkrieg hineinzogen, anschließend die Roten Khmer mit ihrem grausamen Schreckensregime, das von 1975 bis 79 knapp zwei Millionen Menschen ermordete.
Noch heute, 45 Jahre später, ist ein Großteil des Landes, vor allem in den östlichen Regionen nahe Vietnam, verseucht mit tödlichen Landminen und US-Bomben, die jederzeit detonieren können. Diesen Minen fallen heute vor allem Bauern und spielende Kinder zum Opfer. In vielen Regionen sollte man tunlichst nicht die Wege verlassen.
Die Aufarbeitung der blutigen Geschehnisse hat gerade erst angefangen. Ein Tribunal wurde nur gegen die allerhöchste Führungsriege rund um »Bruder Nummer eins« Pol Pot verhängt (was auch daran liegt, dass die Roten Khmer heute immer noch im Untergrund aktiv sind und viele jetzige Politiker eine rote Vergangenheit haben).
Ich habe mich mit Aki Ra unterhalten, einem bekannten Landminen-Entschärfer, der damals für die Roten Khmer gekämpft (und fast seinen eigenen Onkel erschossen) hat. Nach dem Ende der Schreckensherrschaft hat er sich daran gemacht, Landminen aufzuspüren und zu entschärfen. Bis heute hat er 50.000 Minen unschädlich gemacht.
Teilweise werden auch dressierte Ratten (die „Apopo“-Ratten) zum Auffinden der Sprengkörper benutzt. Während der Corona-Jahre stieg die Zahl der Minenopfer wieder stark an, da die hungernde Bevölkerung vermehrt Wälder roden musste, um Lebensmittel anzubauen.
Aki Ra erzählte mir, dass man hierzulande nicht laut und schon gar nicht öffentlich über die damaligen Geschehnisse reden sollte, wenn man nicht wegen „Aufwiegelung“ oder ähnlichem im Gefängnis landen will. In Kambodscha herrscht Zensur; das Internet und die Medien werden streng überwacht. In Phnom Penh befindet sich das berüchtigte Foltergefängnis S-21, wo von über 17.000 Inhaftierten nur 7 (!) Menschen überlebten. Einige von ihnen kann man heute noch dort antreffen und sich ihre furchtbare Geschichte anhören.
Nachdem die Roten Khmer besiegt wurden, verfiel Kambodscha in die Isolation und verarmte erneut. Erst in den 1990ern öffnete sich das Land zögerlich für den Tourismus.
Heute verdient ein Kambodschaner im Schnitt 109 US$ im Monat, wobei hier die Lebenshaltungskosten, verglichen mit anderen asiatischen Ländern, ziemlich hoch sind. Die meisten Waren müssen importiert werden und die Märkte werden nicht reguliert; es gibt kaum gesunden Wettbewerb.
Wenn man ausschließlich in Straßenküchen futtert, kommt man mit günstigen 3-4 US$ pro Tag hin. Ein Zimmer ohne Strom und ohne Klimaanlage mietet der Einheimische für 30-50US$ pro Monat (und er lässt niemals seine Wertgegenstände dort zurück, wenn er arbeiten geht).
Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle des Landes und konzentriert sich auf drei Orte: auf Siem Reap bei Angkor Wat, auf die Hauptstadt Pnomh Penh und auf Sihanoukville mit seinen Stränden. Die meisten Touristen kommen aus China, vor allem wegen der alten Angkor-Tempel, in denen auch heute noch Gebete und Opfer dargebracht werden.
Dank Covid war damit schlagartig Schluss. Die Grenzen wurden geschlossen und Siem Reap wurde quasi zur Geisterstadt; die Einwohner, die in den Hotels und Restaurants arbeiteten, kehrten zu ihren Familien aufs Land zurück. Angkor Wat und viele andere Tempel wurden von den Makaken-Affen zurückerobert.
Erst seit Oktober diesen Jahres kann man wieder problemlos einreisen. In Siem Reap, immerhin die zweitgrößte Stadt des Landes (mit fünf Ampeln), ist es in diesem Jahr dennoch sehr still auf den Straßen. Die Chinesen dürfen noch nicht reisen und so sind hier nur einige Europäer und Amerikaner unterwegs. Viele Hotels, Bars, Restaurants bleiben dauerhaft geschlossen. Auf dem Angkor-Areal waren mein Mann und ich teilweise völlig allein unterwegs (von den unzähligen Affen, die uns um Wasser anschnorrten, einmal abgesehen); sogar der berühmte Ta Prohm-Tempel mit seinen von tropischen Bäumen überwucherten Ruinen war verlassen.
Die Kambodschaner indes freuen sich, dass das Leben langsam wieder zur Normalität zurückkehrt. Sie sind sowieso ein außerordentlich freundliches, offenes Volk, doch in diesem Jahr merkt man deutlich, wie sehr sie einen Neuanfang herbeisehnen. Anders als in Deutschland wird hier nicht gejammert, geschimpft und mit dem Finger auf andere gezeigt; die Menschen hier sind harte Zeiten gewöhnt und als Buddhisten glauben sie, dass negative Gedanken nichts zum Besseren ändern. Für sie ist das Glas immer halbvoll und ich schwöre, es gab nicht einen Menschen, der mich nicht angelächelt und mich gefragt hat, wie es mir heute geht oder was ich heute vorhabe (nur die Beamten gucken sauertöpfisch drein. Wahrscheinlich werden sie dafür extra bezahlt).
Unser Fahrer Suk hat uns schon darauf vorbereitet, dass es zu Silvester in Siem Reap richtig voll werden wird, weil ganz Kambodscha einiges nachzuholen hat.
Wir lächelten und nickten ahnungslos.
Unser Apartment liegt nahe am Fluss im französischen Viertel mit vielen Häusern aus der Kolonialzeit und dem Königlichen Palast. Als wir in der Stadt ankamen, wirkte das Viertel unheimlich leer und still. Auf den Straßen gab es nur wenig Verkehr, hier und da blinkte Weihnachtsdekoration.
Doch drei Tage vor der Neujahrsfeier fing man an, die Stadt und die Parks mit Unmengen von Lichterketten, Girlanden und Lichtobjekten zu schmücken. Bühnen und gigantische Leinwände wurden aufgebaut, Streetfood-Stände reihten sich an den Straßenränden auf und stündlich kamen mehr dazu. Auf dem Fluss wurden prächtig geschmückte Boote zu Wasser gelassen.
Am 31. Dezember gegen Mittag begannen sich die Straßen zu füllen. Tausende Motorroller, Tuktuks und Autos kamen in die Stadt, der Lärm nahm stetig zu. An jeder Ecke wurde Musik aufgedreht, wurden Woks und Grills angeheizt und in der berühmten Pub Street fielen fliegende Händler ein.
Abends machten wir uns auf den Weg, um uns in den Trubel zu stürzen. Auf der River Road am Fluss war jetzt kaum noch ein Durchkommen. Mehrere traditionelle Bands spielten verbissen gegen den Lärm einer K-Pop-Bühne an, die von dem kambodschanischen Bierbrauer Hanuman gesponsert wurde. Die Straßen waren vollgestopft mit meist jungen Menschen, die ihre besten Klamotten angezogen hatten (die Mädchen teils in aufreizendem Manga-Outfit), Familien campierten auf Decken am Straßenrand und Motorroller quetschten sich im Schritttempo durch das Gedränge. Rechts und links boten Händler frittierte Hühnerfüße, knallbunte Süßigkeiten, Oktopus am Spieß und das Nationalgericht Amok an (ein mildes Fisch-Curry in Kokossauce, das in einem Bananenblatt gedämpft wird). Trotz der überfüllten Straßen achteten die Menschen darauf, sich nicht zu berühren oder gar zu schubsen.
Vor den Geschäften hatten die Betreiber Planen und Decken ausgebreitet, um mit Freunden und Familie Unmengen an frischem Streetfood zu vertilgen. Jeder drehte seine eigene Musik laut auf. Viele luden uns ein, uns dazuzusetzen, alle wünschten uns »Happy New Year!«.
Die Pub Street, sonst eine schillernde Touristenmeile, war jetzt fest in den Händen der Einheimischen. Nur wenige Ausländer kamen uns entgegen. An allen Ecken hämmerte und dröhnte K-Pop, traditionelles Gedudel oder Techno aus riesigen Boxen. Straßenhändler verkauften eisgekühltes kambodschanisches Bier und die Jugendlichen tanzten, lachten und schossen Selfies.
Über gigantische Leuchtreklamen flimmerten HAPPY NEW YEAR-Botschaften in Khmer, Chinesisch und Englisch und in mehreren Straßen fanden gesponserte Konzerte und Shows statt.
In den Restaurants, die den Einheimischen normalerweise zu teuer sind, saßen Gruppen aufgedrehter junger Kambodschaner und teilten sich ihre Speisen, leisteten sich ausländisches Bier. Peinliche Alkoholexzesse, Prügeleien oder Geschrei gab es jedoch nirgends. Niemand warf seinen Müll achtlos auf die Straße, niemand zündete Böller oder benahm sich daneben.
Eine große Digitaluhr zählte den Countdown bis zum Jahreswechsel herunter. Der kaum zu ertragende Lärm trieb uns in eine gemütliche Rooftop-Bar, von der aus wir einen schönen Blick auf das Getümmel hatten.
Um 00:00 Uhr brach in den Straßen ohrenbetäubender Jubel aus, in der Bar stießen die Leute miteinander an und die Kellner kamen, um abzukassieren und den Laden zu schließen. Drei oder vier vereinzelte Raketen stiegen in den Himmel und lösten erschreckte Schreie aus. In einem von Bombardements und Minenexplosionen traumatisierten Land hält man nicht viel von Knallern und Raketen.
Nur wenige Minuten nach Mitternacht (kein Scherz) setzten sich die Massen in Bewegung hinaus aus der Stadt, die Euphorie in den Straßen verebbte allmählich, alle gingen jetzt ruhig nach Hause. Überall wurden Tuktuks und Motorroller gestartet, sämtliche Kneipen und Bars schlossen ihre Pforten. Polizisten wedelten mit ihren roten Leuchtstäben, um das Chaos zu dirigieren. Auch die Silvester-Dinner in den edlen Hotels endeten jetzt.
Als wir um halb ein Uhr nachts unser Apartment erreichten, war der Spuk fast schon vorbei. Die blinkenden, funkelnden Lichterketten erloschen, die Leuchtreklamen wurden abgeschaltet, die Straßensperren beiseite gezogen. Ein paar Leute sammelten leere Flaschen ein und deponierten sie neben den Mülleimern.
In Kambodscha fasst man keine guten Vorsätze für das Neue Jahr und äußert auch keine Wünsche. Die Buddhisten glauben, dass man für alles selbst verantwortlich ist, auch für seine Träume, Wünsche und Ängste. Buddha weist ihnen lediglich den Weg in ein besseres Leben. Ob man ihn beschreiten will/kann oder nicht, entscheidet jeder für sich selbst, so wie man sich für Gut oder Böse entscheidet. Wenn jemand zu Buddha betet, dann betet er nicht wirklich oder fleht ihn gar um göttliche Hilfe an, sondern er zollt Buddha Respekt für dessen »Lebenswerk« und die Erkenntnisse, die er so mühsam für die Menschen gewonnen hat. Wer Beistand, Entscheidungshilfe oder Segen braucht, wendet sich an die Mönche.
Buddhistische Mönche, an ihren orangefarbenen Gewändern und den rasierten Köpfen erkennbar, widmen ihr Leben der Lehre Buddhas und leben im Kloster. Ihr Tag beginnt um vier Uhr morgens. Eine wichtige Regel besagt, dass sie sich niemals für vollkommen halten dürfen. Sie dürfen auch nicht töten, das gilt sogar für Insekten, darum filtern viele Mönche ihr Trinkwasser, um nicht aus Versehen eine Fliege zu verschlucken. Natürlich leben sie streng vegan.
Ein Mönch darf nur acht Dinge besitzen: Drei Kleidungsstücke, einen Gürtel, ein Rasiermesser (um seinen Kopf zu rasieren), eine Nadel (um seine Kleidung zu flicken), eine Bettelschale (um Essen zu holen) und ein Sieb. Heutzutage wurde die Regel ein wenig aufgeweicht; auch elektronische Alltagsgeräte sind u.U. erlaubt. Nach 12 Uhr darf er nicht mehr essen, er darf kein Geld haben, darf nicht auf Konzerte gehen und kein Parfüm oder Schmuck tragen. Er darf auch nicht auf bequemen Betten schlafen, Alkohol trinken oder Geschlechtsverkehr haben. Die meiste Zeit meditiert er oder beschäftigt sich mit dem Edlen Achtfachen Pfad. Viele Mönche unterrichten auch in Schulen oder studieren neben Buddhismus z.B. Medizin, Fremdsprachen oder Pädagogik.
Ein Mönch lernt sein ganzes Leben lang, sowohl spirituell als auch praktisch, und gibt das Gelernte an die einfachen Menschen weiter. Im Gegenzug werden er und sein Tempel von der Bevölkerung mittels Spenden versorgt.
In Kambodscha und anderen buddhistischen Ländern unterscheidet man im praktischen Alltag zwischen Kultur und Religion. Beispielsweise haben die typischen Opferaltäre in fast jedem Haushalt für die Ahnen oder die allgegenwärtigen Geister nichts mit der Religion zu tun (wobei Buddhismus eher eine Lebensanschauung als eine Religion ist), sondern gehören zur uralten mythischen Kultur der Vorzeit, die heute noch fest im Leben der Menschen verankert ist. Um die Geister nicht zu erzürnen, gibt man ihnen einen Platz unter den Lebenden und bringt ihnen Gaben dar, zum Beispiel Blumen, eine Flasche Limonade oder auch mal ein Brathähnchen.
Ich bin keine Buddhistin (weil Frauen im Buddhismus als Ursache allen Leids angesehen werden), aber mir gefällt die Denkweise, dass jeder selbst für sein Schicksal verantwortlich ist. Man sucht nicht nach Schuldigen, sondern findet einen Weg, sein Schicksal zu verändern. Es wird auch nicht gemeckert, beleidigt oder gejammert. Alles Negative vergiftet den Geist und führt zu schlechten Taten. Wer unfreundlich oder hämisch gegenüber anderen ist, wer willentlich etwas Böses tut oder es auch nur denkt, wird dafür irgendwann die Quittung bekommen (manchmal erst im nächsten Leben, manchmal schlägt das Karma aber auch schneller zu, als man glaubt). Obwohl Covid in Kambodscha offiziell keine Rolle mehr spielt, tragen daher noch viele Menschen eine Maske, um sich selbst und andere zu schützen.
»Wenn ich einer anderen Person ein gutes Gefühl gebe, indem ich sie respektiere oder auf sie Rücksicht nehme, dann geht es auch mir gut«, sagt Sok.
„Wenn ein Problem gelöst werden kann, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Ich muss nur nach der Lösung suchen. Wenn es keine Lösung gibt, sind Sorgen erst recht sinnlos.“
Das werde ich mir für das neue Jahr zu Herzen nehmen und dadurch hoffentlich, wenn auch nur im Kleinen, die Welt nicht nur für mich ein winziges bisschen besser machen.
Fotos: von mir