Unverzeihlich!

Weibliche Hauptfiguren in Romanen haben ein massives Problem: Sie sind selten perfekt.
„Oh, was für eine Überraschung!“, schallt es sarkastisch aus dem Hintergrund. „Männer sind auch alles andere als perfekt. Im Gegenteil: Je mehr Ecken und Kanten die Jungs haben, umso sympathischer. Fehler sind menschlich!“
Okay, ich formuliere um. Weibliche Hauptfiguren werden mutmaßlich nicht sympathischer, je mehr Ecken und Kanten sie haben. Sie laufen schneller Gefahr, abgelehnt zu werden als ein männlicher Held.

Foto: Lucas Lenzi

Mir ist irgendwann aufgefallen, dass harsche Kritik an den Protagonisten größtenteils auf die weiblichen Figuren abzielt, während man dem männlichen Helden versöhnlicher gegenübersteht.
Beim Rezensionen-Querlesen durch mehrere Genres ist mir mal aufgefallen, dass das Verhalten der Heldinnen nicht nur analysiert, sondern auch streng bewertet wird, was sich dann etwa so liest:

-„Ich konnte mich mit Martha Hari nicht anfreunden, weil sie Hans Dampf ständig beschimpft und beleidigt hat. Und dann haut sie ihm auch noch die Bratpfanne um die Ohren, die aggressive Tussi! Zwei Sterne Abzug für unnötiges Herumzicken.“

-„Warum hat Maria Kron nicht sofort kapiert, dass Tim Buktu sie nur verarscht, um an ihr Millionenerbe zu kommen? Wie strunzdumm ist diese siebzehnjährige Bling-Tussi eigentlich? Einen Stern Abzug für Blödheit.“

-„Martha Pfahl mochte ich gar nicht mit ihrem abweisenden Getue. Sie muss doch gemerkt haben, dass der süße Peter Silie total scharf auf sie war. Aber als sie ihm in der Mensa die Erbsensuppe über den Kopf kippte, da hatte sie bei mir verloren. Hätte ich die mürrische Streberin auf dem Schulhof getroffen, hätte ich sie glatt vermöbelt. Einen Stern Abzug für Widerworte und einen weiteren fürs Erbsensuppe-Auskippen, wo anderswo doch Kinder hungern und so.“

-„Rosa Schluepfer war mir total unsympathisch mit ihrem Schuhkauftick. Das ist doch Klischee pur! Und dann noch ihr ständiges Geflirte und Augenklimpern. Gleich im zweiten Kapitel hat sie Sex. Mit zwei Männern! Im Warenlager des Schuhgeschäfts! Notgeile Schlampe! Hab mich sooo gefreut, als sie ihren Job verlor.“

Foto: Warren Wong

Kritik an männlichen Protagonisten liest sich hingegen eher so:

-„Hmm, als Hans Dampf die Beherrschung verlor und Martha Hari verprügelte, weil sie sich mit der Bratpfanne zur Wehr gesetzt hat, war ich ja ganz, ganz kurz irritiert. Aber wenn man fest die Augen zusammenkneift, hat er sie eigentlich nur gespankt. Mit einem Schürhaken. Und sie hat ihn ja auch nicht angezeigt, weil er sie monatelang im rostigen Wohnwagen gefangen hielt, also: Selbst schuld. Okay, sie konnte ihn nicht anzeigen, weil er sie ja immer noch gefangen hält. Aber bitte: Für einen sadistischen Psychopathen ist er doch ein unglaublicher Hottie mit diesem Wahnsinns-Sixpack!“

-„Ja gut, Tim Buktu ist schon ein verlogenes Arschloch. Macht mit drei Frauen gleichzeitig rum und erklärt nebenher der Vierten – der minderjährigen Maria Kron –, dass sie seine große Liebe sei, nur weil sie ein Millionenerbe erwartet. Aber er ist eben ein echter Bad Boy. Und sooo süß mit den Tattoos und dem Sixpack! Außerdem brauchte er ja auch dringend Geld für Zigaretten.“

-„Naja, Peter Silie ist schon etwas ungeschickt vorgegangen. Nicht jede Frau mag es, wenn man ihr in der Essensschlange in der Mensa von hinten spontan zwischen die Beine fasst und ihr die Zunge ins Ohr steckt. Vielleicht waren die Schwanzbilder, die er ihr alle fünf Minuten aufs Handy schickte, auch etwas zu viel des Guten. Aber er war halt scharf auf Martha Pfahl. Sie muss man ihm nicht gleich Erbsensuppe über dem Kopf kippen (ich hätte sie ihm übrigens sofort abgeschleckt). Und, oh. Mein. Gott. Sein Sixpack!!!“

-„Okay, ich hätte Fred Frikandel gern in den Arsch getreten (Gott, sein knackiger Arsch …!), weil er Rosa Schluepfer zu einem Dreier überredet hat, obwohl sie nur Schuhe in seinem Laden kaufen wollte. Aber bei seinem heißen Körper kann ja wohl keine Frau widerstehen. Hachz! Und dass er das Ganze heimlich auf Video aufgenommen und online gestellt hat, ist ja irgendwie auch lustig gewesen. Gut, nicht für Rosa, die anschließend ihren Job bei der Sparkasse verlor. Aber hey … Fred hat nicht nur ein Sixpack, sondern auch eine echt große Frikandel!“

Foto: Kinga Cichewicz

Ich gebe zu, die Szenarien sind dezent übertrieben.
Was ich damit sagen will: Es könnte durchaus sein, dass ich falsch liege, aber mir scheint, dass man (zumindest in meinen Genres) männlichen Figuren oft sehr viel mehr durchgehen lässt, weil sie ja so heiß sind. Sogar Serienmord geht beispielsweise in Ordnung, aber wehe, du treibst dich als Rocker Bitch in einem Clubhaus herum!
Das Verhalten der Frauen hingegen wird sehr viel harscher kritisiert. Dreimal zu viel rumgezickt und schon sind sie untendurch.
Ich rätsle über den Grund. Da der überwiegende Teil der Leserschaft weiblich ist, liegt die Vermutung nahe, dass man dem eigenen Geschlecht gegenüber unversöhnlicher eingestellt ist. Eine Autorenkollegin meinte dazu lakonisch: „Da kommt halt manchmal die Stutenbissigkeit durch.“
Oder aber man vergleicht die Protagonistin unbewusst mit sich selbst und überlegt, wie man selbst in manchen Situationen gehandelt hätte. Man wünscht, dass die Heldin keine Fehler macht. Wenn sie es dann doch nicht elegant hinbekommt, nimmt man es hin oder man nimmt es ihr krumm.
Vielleicht spielt auch ein archaisches Rollenbild unterbewusst in das Urteil hinein. Von Männern erwartet man Auf-die-Brust-trommeln und die Tür eintreten, statt die Klingel zu drücken. Wenn sie mit einem 32-Liter-V10-Muscle Car im Stau stehen, ist das cool. Bei einer Frau würde man sofort „Umweltverschmutzerin – einen Stern Abzug“ murmeln. Wenn Männer die Kassierin bei Aldi anflirten und fünf Minuten später eine andere flach legen (draußen auf der Motorhaube, während Junior im Wagen in seiner Babyschale sitzt), ist das alpha. Kann man drüber hinwegsehen. Männer walzen nun mal knurrend durch die Weltgeschichte, da gibt es halt Kollateralschäden (erst recht, wenn sie Maßanzug tragen).
Von Frauen erwartet man … ja, was eigentlich?

Mich interessiert eure Meinung:
Denkt ihr, dass man an weibliche Hauptpersonen andere bzw höhere Erwartungen hat als an männliche? Wird man einem Helden eher einen Fehler verzeihen als einer Heldin? Wenn ja, warum?

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