Schnee im Juni

Yanni ist unterwegs.

Allein.

Im Winter.

In den Bergen.

Es schneesturmt, es windchillt und es ist verdammt kalt. Der Weg ist lang und führt bergauf, der Schnee reicht ihr stellenweise bis zur Hüfte und sie muss immer öfter stehenbleiben und nach Luft schnappen. Dann dreht sie dem Wind den Rücken zu, wie Pferde es tun. Denn der Wind ist so schneidend kalt, dass sie kaum die Augen aufhalten kann. Mit gesenktem Kopf stapft sie weiter, denn sie weiß, je länger sie pausiert, desto schwieriger wird es jedesmal, wieder in die Gänge zu kommen.

Wer mal an einem solchen Wintertag unterwegs war – draußen abseits der geräumten Wege, irgendwo ziemlich weit oben, wo man nicht weiß, ob man sich überhaupt noch auf einem Weg befindet oder schon im verschneiten Unterholz steht -, kennt eine solche Situation vielleicht. jetzt ist Juni, draußen hat es schwül-feuchte 26° und der Ruhrpott ist eine grüne Hölle, weil die Kommune kein Geld hat, um das Unkraut an den Straßenrändern runterzuschnibbeln. Ich trinke kalte Apfelschorle und sitze barfuß vorm Rechner. Aber ich muss über den Winter schreiben. Über kalte Finger, die nicht mehr greifen wollen, und über das Gefühl, wenn man im Schnee einsinkt und die Klamotten von der Kälte durchtränkt werden.

Vor zwei Jahren haben wir den Winter in der Eifel verbracht, in einem hübschen Häuschen am Rande von Nirgendwo  mit Kamin und Sauna. Dort wurden wir eingeschneit und kamen nicht mehr weg, weil die Kommune dort kein Geld hatte, um die Straßen zu räumen, oder so. Aber der Hund musste trotzdem Gassi. Direkt hinter dem Haus lag der Nationalpark Eifel. Dort waren wir also spazieren, manchmal hüfttief. Dass wir uns irgendwie auf dem Weg befanden, erkannten wir an den Schildern, die aus dem Schnee ragten. Wir hatten dicke Wintersachen, Thermostiefel und Skihosen an; Yanni hat sowas nicht. Und nach ein, zwei Stunden ging’s wieder zurück zu Kamin, Sauna und heißem Kakao. Yanni weiß nicht, wann sie wo ankommt.

Vor langer, langer Zeit habe ich mal für 4 Jahre in Bayern gelebt, zwecks Job (die Bayern glauben übrigens immer noch, dass hier im Pott die Wäsche schwarz wird, wenn man sie zum Trocknen raushängt. „Gell, Madl, jetzt kriegst amal a schöne Landschaft zu sehen, des habts ihr dahoam ja net, nur Briketts.“ Ungefähr so). Im Winter war dort auch richtig Winter: kein Unterschied zwischen Straße und Feld, alles eine weiße glatte Fläche. Überall Schneeschieber unterwegs, die sich an den schwarzgelben Stangen orientiertem, die in weiser Voraussicht schon im Herbst an den Straßenrand gesteckt worden sind: hier Straße. Während bei uns im Pott beim kleinsten Schneeschauer sofort alles rausstürmt, Schneemänner baut, nur noch 8 km/h fährt und sich mit Glühwein ins Koma trinkt, bleibt der Bayer dahoam in der Stube und wartet, bis die Straßen frei sind, statt in Ekstase zu fallen. Kennt er ja alles schon, kommt eh jedes Jahr wieder.

Unterwegs sein im Schnee. Ich gehe oft auf Trekkingtour, mit Zelt oder ohne. Aber noch nie im Winter. Ich kenne allerdings eine Menge Outdoorer, die Wintertouren machen, im Harz, im Riesengebirge, in Süddeutschland. Im Sommer ist man in Deutschland nirgendwo allein unterwegs – aber im Winter, im Winter! Tagelang kann man durch unberührte Wälder stapfen. Abends schlägt man sein Zelt im Schnee auf, ohne befürchten zu müssen, wegen Wildcampens belangt zu werden. Dann wird der Gaskocher angeworfen und anschließend der Stille gelauscht.

Jetzt habe ich mir einen Winterschlafsack mit französischer Daune gekauft. Ich bin eine Frostbeule, aber wenigstens eine deutsche Wintertour möchte ich mal machen. Ich kann’s mir ja aussuchen. Yanni nicht. Sie ist nicht freiwillig unterwegs. Mit ihrer Ausrüstung würden wir Zivilisationsmenschen wohl die ganze Zeit jammern, wie FURCHTBAR KALT es doch ist und anschließend den einen oder anderen Zeh verlieren. Yanni ist hart. Sie kennt keine Heizung, keinen Ceranherd, keinen Straßenräumdienst. Das ist es wohl, was Winter-Outdoorer suchen. Das Weg-von-der-jederzeit-verfügbaren-Bequemlichkeit und das Hin zum Wenn-es-sein-muss-kann-ich-das-und-es-ist-gar-nicht-so-schlimm-wie-ich-dachte. Rausgehen und sein eigener Held werden.

Es ist Juni, aber ich spüre Frost in den Fingern. Eine Windböe weht Schnee von den Bäumen und er fällt mir in den Nacken und rinnt das Rückgrat herunter.  Vor mir liegt eine endlos weiße Fläche, weiß und blau, unberührt. Am Horizont verschwimmt die Grenze zwischen HImmel und Erde.

 

 

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