Die amerikanische Nacht ist eines dieser Bücher, die langsam wachsen, dann aber so nachhaltig im Gedächtnis bleiben, dass man noch lange Zeit danach jeden weiteren Schmöker daran misst, zumindest ging es mir so. Ich würde es als Reinkarnation der Gothic Novel bezeichnen, als ein fast perfektes Spiel mit Realität, Fiktion und Horror.
Der 720 Seiten starke Roman hat mich ziemlich überwältigt und direkt vereinnahmt. Lange schon war ich nicht mehr so gefesselt und so begeistert von einer Erzählsprache!
In dem Buch geht es um den investigativen Journalisten Scott McGrath, der mit obsessiven Eifer den Selbstmord von Ashley aufklären will, der 24-jährigen Tochter des mysteriösen Regisseurs Cordoba, dem Scott das Ende seiner Karriere verdankt und der nie in der Öffentlichkeit auftaucht.“Was auch immer Sie von Cordoba halten, egal wie besessen Sie von seinem Werk sind oder wie gleichgültig es Ihnen ist – man muss sich gegen ihn zur Wehr setzen. Er ist ein Abgrund, ein schwarzes Loch, eine unbestimmte Gefahr, der erbarmungslose Ausbruch des Unbekannten in unserer überbelichteten Welt.“
Cordoba hat die menschlichen Abgründe, die Finsternis zum Thema seiner Filme und er wird von seiner Fangemeinde verehrt wie ein dunkler Sektenführer. Seine Filme werden im Untergrund aufgeführt, das Fanforum ist nur Eingeweihten zugänglich.
Scott jagt wie besessen diesem genialen Phantom hinterher und gerät in einen wilden Ereignisstrudel, der Traum und Realität ineinander verdrillt. Er weiß nicht mehr, ob er Teil eines morbiden Werks geworden ist oder einfach nur williges Opfer einer geschickten Manipulation wird. Seine beiden Mitstreiter sind ebenso faszinierende Charaktere wie er selbst, und über allem schwebt der Schemen des Regisseurs, der hier und da Spuren hinterlässt.
Die Erzählsprache von Marisha Pessl ist – Entschuldigung – göttlich. Sie präsentiert eine perfekte Kulisse, die einem vom ersten Satz an gefangen nimmt und atmosphärische Bilder im Kopf entstehen lässt. Immer hat man das Gefühl, irgendwo in einem richtig düsteren Hitchcock-Thriller zu stecken, man schmeckt förmlich die Dunkelheit. Die Details sind nie überbordend, sondern genau richtig dosiert. Manchmal schwillt die Erzählung regelrecht an, um dann wieder locker und schnörkellos weiterzuschreiten. Ich fand keinen der Sätze überflüssig oder überkandidelt, sondern dem Thema des Buches absolut angemessen.
„Der Morgen schien den Himmel müde mit einem Schwamm abzuwaschen, er tauchte die Straßenschilder und Frontscheiben in ein trübes Badewasserlicht, während der Rhythmus des Highways unter den Reifen pochte.“
Der Plot ist gut strukturiert; die Spannung und das diffuse Unbehagen schleichen sich an und bauen sich Schritt für Schritt auf, je mehr Versatzstücke Scott auf seiner Jagd nach Cordoba findet. Alles deutet auf eine unfassbare, grausame Wahrheit hin …
Das Buch spielt mit den Medien; es hat den Film zum Thema und benutzt Zeitungsausschnitte, Bilder von Internetseiten etc für seine Erzählung. Dadurch wirkt es umso authentischer und das wiederum macht deutlich, wie sehr wir die Realität daran messen, ob sie irgendwo abgebildet und kommentiert wurde.
Und nebenher lernt man einiges über den Film (als amerikanische Nacht bezeichnet man eine Filmszene, die am Tag gedreht wurden und später dem Zuschauer mittels Nachbearbeitung als Nachtszene präsentiert werden).
Das Ende hat mich etwas unbefriedigt zurückgelassen, obwohl es „richtig und logisch“ ist und mir ehrlich gesagt auch keine bessere Lösung eingefallen wäre.
Fazit: ein absolutes erzählerisches Highlight für Viel- und Genußleser, die gerne in eine Geschichte hineingezogen werden und eine richtig gute Erzählsprache lieben.
Die amerikanische Nacht ist der zweite Roman von Marisha Pessl; ihr Debüt die alltägliche Physik des Unglücks hat mich ehrlich gesagt nicht vom Hocker gehauen; für meinen Geschmack war es zu aufgesetzt intellektuell.
Erhältlich als ebook oder Print hier
- Gebundene Ausgabe: 800 Seiten
- Verlag: S. FISCHER; Auflage: 1 (12. September 2013)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3100608046
- ISBN-13: 978-3100608048