Die Muse, die Endzeit und ich – oder die Sache mit der Kreativität

Versteh einer die Musen …
Meine war vorletzten Montag zu Besuch, hat sich auf die Schreibtischkante gesetzt, mir eine Weile beim Auf-dem-Bildschirm-starren zugeschaut und dann beschlossen, einzugreifen. Auf ihre übliche schnoddrige Art sagte sie: »Das ist ja mal gar nix.«
»Danke für den hilfreichen Tipp, Frau Schlaumeier«, murrte ich und löschte die Worte, die ich in den letzten zwei Stunden geschrieben hatte. Sie lauteten: Tür immer gut abschließen. Nein, bitte fragt mich nicht … es war das Erste, was mir in den Sinn kam und ich hab’s nur getippt, damit in der Projektstatistik hinter geschriebene Wörter keine große fette 0 stand.
An diesem Tag saß ich – wie ich hier und da schon lauthals verkündet habe – an meinem Endzeit-Roman. Das Manuskript wuchs und wuchs und hat mich immer weiter hinaus in meine Geschichte getrieben, in Gegenden, in denen ich noch nie war und die auch nicht auf der Plot-Karte verzeichnet waren. Und ich hatte kein Navi dabei, verdammich! An besagtem Montag stand ich wie der Ochs vorm Berg und hatte keine Ahnung, wie es dahinter weitergehen soll. Stattdessen schrieb ich hilflos Tür immer gut abschließen. Ich muss wohl nicht hinzufügen, dass dieser Satz keinerlei Sinn ergab, weder im Kontext der Geschichte noch sonstwie. In der aktuellen Szene kam nicht einmal eine Tür vor!

Mit der Idee zu diesem Roman ging ich seit 2012 schwanger. Der Plot nahm später Formen an, als ich mich auf eine Solotour durch die norwegische Hardangervidda und das arktische Plateau begab. Während der vier Wochen glaubte ich über lange Zeit oft, der letzte noch lebende Mensch zu sein. Vielleicht war eine Atombome niedergegangen oder eine virale Katastrophe eingetreten und ich wusste von nichts.
Norwegen12_1517In der ersten Nacht hielt ich das Rauschen eines Gletscherflusses für den Hintergrundlärm der A40, bevor mir klar wurde, dass ich im Umkreis von wenigstens einer Woche Fußmarsch keinen anderen Menschen finden würde. Auf dem arktischen Plateau begegnete ich genau zwei Schneehühnern und einer erfrorenen Spinne. Unter der Schneedecke lagen Seen und Flüsse verborgen und einige Male brach ich bis zur Hüfte ein, während es tief unter mir rauschte. Beim leichtsinnigen Überklettern einer glattgefrorenen Granitplatte bewahrte mich nur der glückliche Griff in festes Gestein vor einem achtzig-Meter-Sturz in den Rembesdalsvatnet, einem See, der vom Hardanger-Gletscher gespeist wird. Überflüssig zu erwähnen, dass ich nicht einmal Handyempfang hatte.
Als ich das arktische Plateau überquert hatte (und eine wunderschöne unendliche weite Schneelandschaft), erreichte ich das berühmte Örtchen Finse (das man nur per Bergenbahn, Hubschrauber oder auf strammen Beinen erreicht), wo Anno dunnemals die Star Wars-Crew untergebracht war, als sie auf dem Gletscher die Szenen auf dem Eisplaneten Hoth drehte (Das Imperium schlägt zurück). Dort erfuhr ich, dass ich in diesem Jahr die dritte Person sei, die das Plateau gequert habe, und dass man den Typen, der eine Woche vor mir aufgebrochen sei, noch nicht wiedergefunden habe. »Naja, warten wir halt bis zum Frühjahr, wenn’s taut«, sagte mir der Hüttenwirt schulterzuckend.
Aber ich schweife ab …

Also, ich kam mit dem eigentlich vollständigen Plot zurück nach Hause, schrieb ihn auf und beschäftigte mich danach mit DEMONIZED.
Jetzt im April sollte ich mit meinem Endzeit-Projekt durch sein, zumindest hatte ich mir das so vorgenommen. Aber wie das so ist beim Schreiben, Drüber-Lesen, Verschlimmbessern: Die Charaktere könnten ein bisschen mehr Abenteuer und Motivation vertragen, den einen oder anderen Tritt in den Hintern – und ein paar Kataströphchen schaden eh nie. Gesagt, getan. Aus dreihundert Normseiten wurden drölfzighundert. Zurück zu Kapitel eins, umschreiben, wieder vor zu Kapitel Dingens, wo dieser durchgeknallte … nee, das war woanders. o Gott, diese Formulierungen! Schreibt man das wirklich so? Und den letzten Absatz versteht doch kein Mensch. Außerdem ist der todlangweilig. Was habe ich mir dabei bloß gedacht?
Schnitz, schnitz, tipp und lösch. Soll ich das Projekt nicht doch lieber aufgeben? Aber eigentlich liest es sich doch recht gut. Und es steckt schon sooo viel Arbeit darin … seufz.
»Was macht dein neuer Roman?«, fragte mein Männe beim Frühstück und ich nuschelte: »Läuft.«
Als Antwort bekam ich ein Stirnrunzeln, denn üblicherweise erzähle ich immer weitschweifig von allen interessanten und besonders den uninteressanten Begebenheiten, bis mein Männe verstohlen auf die Uhr linst und etwas von »Ich bin wohl eher nicht deine Zielgruppe« murmelt. Unterm Tisch lag der Hund und pupste leise vor sich hin, was auch eine Art von Literaturkritik darstellte.
Seit Wochen saßen mein Endzeitmanuskript und ich also zusammen am Schreibtisch und starrten uns an. Und dann streikte mein gesunder Menschenverstand und begann, sich die Haare zu raufen. „Ich bin doch nicht Cormac McCarthy“, flüsterte er, „und an einer neuen Version von 28 Days Later hat auch niemand Interesse. Endzeit ist tot. Zombies torkeln schon genügend über den Fernsehbildschirm und demnächst gibt es eine Fortsetzung von Mad Max in den Kinos. Komm, lass gut sein“, sagte mein guter Freund Verstand. „Das wird nix mehr.“
Meine Muse, die sich bis dato nur selten hatte blicken lassen (dafür gab es einen guten Grund, aber den erfahrt ihr gleich), tauchte plötzlich wieder auf. Mit einem Mal hockte sie auf der Schreibtischkante und sah mir wortlos dabei zu, wie ich Tür immer gut abschließen löschte. Ich hörte einen leisen Seufzer.
Meine Muse beugte sich vor und flüsterte: »Wie war denn so dein Wochenende?«
»Hab geschrieben«, brummte ich.
»Und?«
»Nix und.« Ich deutete auf den jetzt jungfräulich weißen Bildschirm, auf dem der Cursor nervtötend vor sich hin blinkte. »Tür immer gut abschließen. Mehr ist nicht dabei herumgekommen. Was auch immer das bedeuten mag.«
»Wollen wir beide nicht mal eine Weile über diesen klugen Satz nachdenken, meine Liebe?«, raunte die Muse.
Ich muss an dieser Stelle hinzufügen, dass meine Muse nicht gerade dem goldgelockten zarten Engel gleicht, den man sich gemeinhin unter Muse so vorstellt. Meine Muse hat eine Kartoffelnase und liebt Latzhosen und Holzfällerhemden. Und auf ihren großen Zehen wachsen Haare. Das weiß ich, weil sie grundsätzlich keine Schuhe trägt. Außerdem tut sie Zucker in den Jasmintee, was meiner Meinung nach mit nichts zu entschuldigen ist. Aber man soll seine Musen ja nicht nach dem Äußeren beurteilen.
Meine Muse allerdings hat noch eine andere Charakterschwäche: Sie klaut wie eine Elster (das ist der Grund, warum sie öfter für eine Weile untertaucht). Ständig verschwinden Dinge. Mal ist es der Schlüsselbund (den sie aber netterweise irgendwann wieder zurücklegt; meist dort, wo man ihn niemals vermutet), ein andermal die belgische Schokolade, die ich mir extra für Abends aufgehoben hatte, oder der Notizzettel mit der wahnsinnig wichtigen Telefonnummer, die ich dringend zurückrufen sollte. Mein Männe behauptet zwar, dass es keine Musen gäbe und die verschwundenen Gegenstände somit eine andere Ursache … aber lassen wir das. Männer halt.
Meine Muse ließ mich jedenfalls nicht vom Schreibtisch aufstehen, bis ich sehr, sehr eingehend über Tür immer gut abschließen nachgedacht hatte. Heraus kamen ein paar interessante Ideen und Szenen, die nach Aufklärung schrien.
Anschließend nahm ich mir das Wochenende frei, statt wie üblich zu schreiben. Ich besuchte, dem Rat meiner Muse folgend, ein großes, wuseliges Biker-Festival in der Nähe, organisiert vom Hersteller einer einschlägigen Motorradmarke, auf dem sich Weekend Warrior* und Einprozenter* gleichermaßen herumtrieben, verknallte mich unsterblich in ein Motorrad und führte anschließend ein langes Streitgespräch mit meinem inneren Buchhalter. »Eine hübsche kleine Honda Shadow reicht der gnädigen Frau wohl nicht?«, meckerte der bleiche dürre Buchhalter in meinem Hinterstübchen. Die Muse amüsierte sich köstlich und ich gewann mit dem unschlagbaren Argument: „Es gefällt mir. Ich will es haben. Jetzt!“ und einem Fußstampfer. Der Buchhalter warf resigniert den Taschenrechner in die Ecke und grummelte etwas von »Fahrradfahren ist aber viel gesünder«.
Zu Wochenbeginn saß ich wieder frisch und munter morgens um halb fünf vor dem Bildschirm (gut, streicht das frisch und munter) und öffnete ein zweites, leeres Projekt. Tür immer gut abschließen und die verliebte Betrachtung eines Motorrades amerikanischer Herkunft auf einer Veranstaltung, bei der Leder die dominierende Bekleidung darstellte (Haha, ich weiß, was dir gerade durch den Kopf geht, lieber Leser! Ich sagte doch, es war ein Biker-Fest!) – und siehe da: Die Geschichte von Frenchman und Juli war geboren.
Norwegen12_1022Meine Muse hockte wieder auf der Schreibtischkante und sah mir beim Tippen zu, während sie Zuckerwürfel in den Jasmintee fallen ließ. »Aber wie endet jetzt die Geschichte um Sascha, den Freak und Alaska?«, fragte sie und schlürfte den Tee (ihre Manieren sind genauso furchtbar wie ihr Kleidungsgeschmack). »Happy End, dunkle Wolken am Horizont? Alles Leben ausgelöscht?«
Ich grübelte nach. Diesmal wesentlich entspannter als noch in der Woche zuvor. Schließlich waren neue Gäste eingezogen, die auch ihre Geschichte erzählt haben wollten. Ich dachte darüber nach, was die Helden in meiner Endzeitstory bis jetzt alles hatten durchstehen müssen, wie weit sie gekommen waren. Ich hatte ihnen echt übel mitgespielt, mein lieber Scholli.
Und dann wusste ich, dass es für sie noch nicht zu Ende war. Es stand ihnen noch ein gemeiner Winter bevor, eine Katastrophe, ein Sinneswandel. Ah – und dort hinten sah ich die Zielflagge flattern. Dort musste ich hin!
Mit einem kleinen Lächeln leerte die Muse ihre Tasse und ließ sie in ihrer Latzhosentasche verschwinden.
»Du hast nicht zufällig auch ein paar einzelne Socken mitgehen lassen?«, fragte ich tadelnd. »Nach dem Wäschewaschen sind letztens schon wieder welche verschwunden.«
„Socken? Ich?“ Die Muse räusperte sich und deutete auf den Bildschirm. »Schreib lieber das auf, was dir eben durch den Kopf ging. Das war gut«, sagte sie und fügte hinzu: »Aber auch ganz schön gemein. Ich bezweifle, dass sie ungeschoren dort rauskommen. Meine Güte, wenn ich keine Muse wäre, müsste ich dich allein aufgrund deiner fiesen Gedanken in die Klapse einweisen lassen!«
»Das ist kein Blümchenroman, du Hobbit«, murmelte ich, während ich bereits lostippte, als müsste ich einen Sekretärinnenwettbewerb gewinnen.
Als ich das nächste Mal aufblickte, war meine Muse verschwunden – und mit ihr mein Lieblingskugelschreiber, der Locher und eine Topfblume. Dafür fand ich einen Post-It-Zettel, auf dem stand: Die Höllenreiter waren übrigens auch da und haben in deinem Notizbuch herumgekritzelt. Solltest mal reinschauen. P.S.: Das mit Kaffee war ich nicht!!! Die Muse

Die Moral von der Geschichte: Wenn die Muse »Mach mal Pause, du bleiches Wesen der Nacht, und geh an die frische Luft, damit dein zugesponnenes Hirn durchgepustet wird«, sagt, sollte man dringend auf sie hören. Eine Auszeit, und sei sie noch so kurz, ist keine verlorene Zeit! In meinem Fall hat sie mir neue Schubkraft für das Endzeitprojekt eingebracht und mir gleich die Figuren eines interessanten Bad Boy-Romans ins Haus geholt.
Ach ja: Und man sollte besser ein paar kluge Antworten parat haben, wenn Männe einen Anruf entgegennimmt und mit gefurchter Stirn fragt: »Wieso wollen Sie ein Motorrad anliefern? Ich habe keins bestellt.«

*Weekend Warrior: Freizeit-Rocker, meist betuchte Herren in der Midlife-Crisis, die ihr Motorrad nur am Sonntag bei Schönwetter aus der Garage holen, zum nächsten Bikertreffen fahren, Kaffee trinken, ihre makellosen Boots bewundern, und dann wieder nach Hause juckeln, um am Montag in der Kanzlei ganz cool etwas von „war ein echt harter Ritt am Wochenende“ fallenzulassen.
*Einprozenter: Geht zurück auf die sogenannten Hollister-Ausschreitungen auf einem US-Bikertreffen 1947, die heute zum Gründungsmythos der Biker-Subkultur gehören. Die AMA (Organisator des Treffens) erklärte angeblich später, dass 99% aller Motorradfahrer rechtschaffene Bürger und nicht an den Onepercenter - Hollister-BashAusschreitungen beteiligt gewesen seien.
Die Onepercenter-Raute wurde danach zum Symbol für „echte“ Biker, die sich mit der Sonntagsfahrermentalität nicht abfinden wollten. Heute steht der Onepercenter für Biker, die ihren Lebensstil ohne Kompromisse und Rücksicht leben wollen und wird hauptsächlich von Mitgliedern der Outlaw Motorcycle-Gangs getragen, jenen Biker-Gangs, die aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft, weitreichenden kriminellen Aktivitäten und ihrem Territorialverhalten als Gefahr für die öffentliche Sicherheit gelten und teilweise verboten wurden.

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