In meinem Bekanntenkreis gibt es Leute, die einen großen Bogen um Stephen King machen, weil er ihrer Meinung nach ein Schwafler ist. Der Mann verliert sich gern in Details, beschreibt den kleinen staubigen Laden an der letzten Landstraßen-Tanke links und die runtergekommenen Gestalten, die dort an ihrem billigen Dosenbier nippen, mit hingebungsvoller Präzision. Da sagt dann der eine oder andere Leser: „Sch… auf Dave, der im Alter von neun Jahren von seiner Schwester im Schrankbett eingeklappt wurde und beinahe verdurstet wäre! Ich will die verdammten Monster, ich will Blut und Eingeweide!!!!“
An dieser Stelle gestehe ich mal, dass ich den „Meister“ vor allem wegen seines Geschwafels gerne lese. Horror ist nicht so mein Genre, aber ich mag es wirklich gern, wenn die Welt, in der die Geschichte spielt, vor meinem inneren Auge hier und da entblättert wird und nicht mehr nur bloße Kulisse ist. Mag sein, dass die Schrankbett-Episode die Geschichte nicht vorantreibt, aber sie gibt ihr Tiefe.
Tiefe: Das ist dieses Dingens, dass es einem ermöglicht, kopfüber in das Buch einzutauchen. Ohne Tiefe stößt man sich schnell den Schädel an und zurück bleibt ein dumpfes Pochen zwischen den Ohren. Und die ganze Zeit nimmt man das Sonnenlicht der Realität wahr, weil man nicht tief genug tauchen konnte.
Lektoren sprechen gerne vom „Verdichten einer Geschichte“, vom Komprimieren und Konzentrieren auf das Wesentliche, wenn sie „Geschwafel“ als überflüssig markieren. Szenen und Beschreibungen, die augenscheinlich nichts mit der Story zu tun haben, sollten rigoros ge-tipp-ext werden (natürlich nur im übertragenen Sinn; auf dem Bildschirm gäbe das sonst eine hübsche Sauerei).
Beim Schreiben besteht für den Autor ja immer die Gefahr, dass er mit Lucindas irrationaler Angst vor Clowns auf Hochrädern beginnt und unerwartet bei Herrn Schmidts krankhafter Liebe zur Frettchenjagd mit Kurzhaardackeln endet. Dabei geht es in dem Roman doch eigentlich um den Serienkiller mit der roten Pappnase.
Die Kurzhaardackel-Episode mag nicht direkt die Geschichte vorantreiben, aber vielleicht verleiht sie ihr Kolorit. Sie verwandelt die angepinselte Sperrholzkulisse, die als Hintergrund der Horrorgeschichte dient, möglicherweise in einen kleinen Vorort, der von echten Gestalten bevölkert wird, nicht von Statisten, die dreimal von links durchs Bild schlendern. Der olle Herr Schmidt soll, bitteschön, nicht sterben! Wer kümmert sich denn dann um seinen todesmutigen Dackel?
Aus diesem Grund schätze ich den obengenannten Meister des Horrors: Herr King ist ein verdammt großartiger Erzähler, der mit jedem Buch eine echte Welt schafft und nicht nur eine Story runtertippt. Monster? Ja, meinetwegen nehme ich die auch mit.
Nicht jeder Leser mag diese Art von Erzählen. Ich habe immer mal einen Testleser, der in meinem Manuskript so etwas wie „überflüssiger Absatz; hat nichts mit der eigentlichen Story zu tun“ anmerkt. In der Regel ist es nur ein Leser in der Runde, der es gerne rasanter und straighter hätte (Gottseidank!)
Zack-Bumm: Da die drohende Gefahr, dort das Gemetzel und hier bitte das Finale. Alles andere sind nur Christbaumkugeln und ein bisschen Lametta .
Früher war übrigens mehr Lametta; das gilt auch für Bücher. Früher wurde mehr erzählt, heute wird alles abgehandelt. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass wir in der Generation Kurze-Aufmerksamkeitsspanne leben. Daran sind wie immer die bösen, bösen Medien schuld, gell? Zwischen den Werbepausen bleibt nicht soviel Zeit, um in der Soap-Opera zu erklären, warum Uschi schwanger ist und wieso fünf Männer als Vater in Frage kommen. Mach fertig, den Mist.
Frage ich also höflich bei den anderen Testlesern nach, ob ich beispielsweise die Episode über Björn streichen soll, wie er zum ersten Mal in seinem Leben einen Fisch ausnehmen will (der ihn aus feuchten schwarzen Augen traurig ansieht), dann heißt es: „Wenn du Björn und seinen Karpfen aus dem Buch streichst, verfluche ich dich auf ewig, Schreiberin! Björn ist toll, Björn und seine schuppige Herausforderung haben der Geschichte um den Serienkiller-Clown eine hübsche kleine Seitengasse hinzugefügt, in die ich einen Blick hineinwerfen durfte. Umso schlimmer, wenn der Clown dort sein mordendes Unwesen treibt! Da sind ja echte Menschen unterwegs in deiner Story, nicht nur bloße Pappkameraden, um die es nicht schade wäre!“
Ehm, nun … was ich damit sagen will: Ich glaube an kontrollierte Ausschweifungen, weil sie unterstreichen, wofür der Held oder die Heldin kämpft. Weil sie eine Welt schaffen, in der der Leser umherwandelt und hoffentlich so etwas sagt wie „Ach, guck mal, der Björn! Den kenne ich; ein echt netter Kerl. Der kann keine Fischbäuche aufschlitzen, ohne sich die Seele aus dem Leib zu kotzen. Hoffentlich erwischt der Clown ihn niemals!“
„Lucky Bastard“ hätte halb so lang sein können. Ich selbst hätte immens Zeit beim Tippen gespart, die Testleser Zeit beim Testlesen, und der Kaufpreis für eBook und Print würde schlussendlich niedriger sein, weil Umfang und Datenvolumen bei konsumfreundlichen 230 Seiten lägen. Es gibt Leute, die bezeichnen ein Buch dieses Umfangs als Kurzgeschichte.
Dafür hätte es dann auch weniger Welt gegeben, sorry. David Lees Schrullen wären der Erase-Taste zum Opfer gefallen. Ripley würde auch nur am Rand durchs Bild stromern, genau wie Lokus-Schulze mit seinem Boxer Elmo und der hübsche, wuschelköpfige Biker Finn, auf den in jeder größeren Stadt ein Mädchen wartet.
Ich weiß, dass nicht jeder Leser meine Meinung teilt. Viele wollen keine Details, keinen Einblick in das Leben von Nebenfiguren, kein Insiderwissen. Sie wollen die Zielboje erreichen, die da draußen sichtbar vor sich hin dümpelt, verdammt! Warum also noch einen Abstecher zu der schäbigen kleinen Insel machen, auf der doch nur ein paar struppige Ziegen herumhüpfen?
Naja, weil meiner Meinung nach diese Insel erst deutlich macht, wie unendlich riesig der Ozean drumherum ist und wie winzigklein die Zielboje. Man braucht Dinge, an denen man abmessen kann, wie groß eine Gefahr ist, ein Konflikt oder das Aufeinandertreffen zweier Gruppen aus verschiedenen Welten. Wenn man nicht weiß, in welcher Welt man sich bewegt, kann man auch nicht verstehen, wie schwerwiegend ein bedrohlicher Konflikt sein kann.
Zu gerne möchte ich Bücher schreiben, in denen sich der Leser auch nachts im Traum bewegt. Ich möchte, dass er durch die Gassen meiner Städte schlafwandelt, dass er das Kopfsteinpflaster unter der Schuhsohle spürt und den salzigen, leicht abgasgeschwängerten Duft schmeckt. Ich möchte, dass er einem Mann mit einem Wassereimer über den Weg läuft und denkt: „Ach, guck mal, der Björn trägt seinen Karpfen zurück zum Seeufer. Was für ein liebenswertes Weichei, der olle Björn.“
Ich möchte von der Welt erzählen, in der meine Geschichten stattfinden. Ich möchte, dass ihr, liebe LeserInnen, sie seht, schmeckt, fühlt und für absolut real haltet. Ich möchte, dass euch echte Personen mit all ihren Ecken und Kanten in die Augen schauen. Mir geht es während des Schreibens nämlich auch nicht anders. (Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden …)
Mir ist bewusst, dass es verschiedene Lesertypen gibt. Die einen benutzen ausschließlich die Autobahn, wenn sie von Duisburg nach Hamburg wollen. Sie geben ordentlich Gas, schalten die Klimaanlage ein, hängen den Arm aus den Fenster und hoffen, nicht in einen Stau zu geraten. Gestoppt wird nur, wenn die Tankanzeige blinkt. Die anderen werfen ihren Schlafsack auf den Gepäckträger ihres Mopeds und sagen dem Navi „Vermeide Autobahnen“ und womöglich noch „wähle kurvenreiche Strecke“ (Jepp, diese Dinger gibt es. Geniale Erfindung!). Unterwegs halten sie an diesem interessanten kleinen Laden mit dem ausgestopften Pferd im Schaufenster und lernen Steve kennen, der sie zur jährlichen Schwarzbrenner-Party oben in den Bergen einlädt … Wer weiß, vielleicht schaut der Clown mit der Pappnase vorbei und knotet lustige Tiere aus Luftballons.
Ja, ich weiß.
Man kann’s auch übertreiben.
Aber ich glaube fest daran, dass sich in solchen Fällen diese kleine fiese Stimme im Autoren-Hinterkopf meldet und sagt: „Du weißt schon, dass du gerade schwafelst, Schreiberin, gell? Willst du dich grad vor der eigentlichen Story drücken, gehen dir die Ideen aus oder driftest du aus der Geschichte fort?“ Kann man eine dieser Fragen mit Ja beantworten, dann sollte man den Rechner ausschalten, seinen Hund (oder wahlweise seinen Lebensabschnittsgefährten, sein Moped oder seinen zahmen Biber) schnappen und sich ein bisschen Frischluft durchs Hirn wehen lassen.
Mein persönliches Fazit: Gebt eurer Geschichte – oder der Geschichte, die ihr gerade lest – Raum, sich zu entblättern. Autoren sind keine Hufschmiede und Geschichten sind kein Stück Eisen, das man zurechtdengeln muss, bevor es abkühlt und erstarrt. Eine Geschichte ist ein kleiner Garten. Unter der alten Buche blüht etwas im Verborgenen und drüben am Teichufer steht diese alte Sonnenuhr aus Messing – ach und guck mal dort, dieser torkelnde Käfer mit den schillernden Flügeln! Der Pfad, der sich durch die Geschichte schlängelt, zeigt uns ein paar bemerkenswerte Geheimnisse am Rand, die sonst unentdeckt blieben und die dem Garten seinen besonderen Wert verleihen.
Also: Genießt eure Bücher!