Extremsituationen und die deutsche Vollkaskomentalität

Wo ich gerade so am Rechner sitze und die Rohfassung für meinen dystopischen Roman schreibe, muss ich mich auch mal mit Extremsituationen und dem Überleben derselbigen befassen. Was heißt muss?
Bei dem Thema krache ich immer wieder mit meinem vollkaskoversicherten Umfeld zusammen. Und heute bin ich auf einen interessanten WELT-Artikel gestoßen, dessen Leser-Kommentare mich zu ebendiesem Beitrag inspirierten.
Die Geschichte um Aron Ralston, der gefangen in einer Felsspalte, seinen eigenen Arm amputierte (Verfilmt unter „127 Hours“) kennt wohl jeder. Dann gibt es da noch die Story um den 70-jährigen Bergsteiger Manfred Walter, der 6 Tage und Nächte in einer Spalte festhing, jeden Tag ein Stückchen Schoki aß und pünktlich von 10 bis 16 Uhr um Hilfe rief. Laut des WELT-Artikels hat in einer breit angelegten Studie der TH Mittelhessen fünf Tugenden herausgefiltert, um Extremsituationen zu überleben:

  • Starker Wille (ist eigentlich logisch): die Fokussierung auf das Erreichen eines Ziels
  • Kreative Problemlösung (Ausrüstung zweckentfremden, Zeitplan aufstellen, mit einem Baseball reden, um nicht durchzudrehen …)
  • Selbstdisziplin (auch gegen körperliche Bedürfnisse)
  • Selbstvertrauen („Stimmungsmanagement“)
  • Routine/das Entwickeln einer Struktur, um harte Zeiten zu überstehen (Botschaften kritzeln, beten, singen, was auch immer)

Einige Punkte lassen sich erlernen, wenn man z.B. passionierter Bergsteiger, Extremsportler, Rettungskraft oder Wildniswanderer ist. Natürlich hat jeder seine persönliche Grenze; dennoch sind diese Tugenden auch im normalen Alltag hilfreich, denn sie beinhalten Persönlichkeitseigenschaften wie Energie, Optimismus, Ehrgeiz und Integrität. Wer seine Gedanken und Gefühle steuern kann, Rück- und Fehlschläge problemlos wegsteckt, Hindernisse überwindet, bewältigt belastende Situationen wesentlich besser und stressfreier – logo.

Interessanter fand ich die anhängenden Leserkommentare zu dem WELT-Artikel. Der allgemeine Tenor war: Intelligente Menschen bringen sich gar nicht erst in solche Situationen, weil: gefährlich.
Ah ja.
Ist das Vermeiden von Risiken nun die oberste Tugend oder ist es – wie ich finde – ein Beweis von zvilisatorischer Lethargie, gepaart mit „Die da oben wissen am besten, was gut für mich ist“ und gewürzt mit diffuser Angst vor unbekannten Situationen und dem Erreichen der eigenen Grenze? Warum scheut der Großteil der Menschen davor zurück, seine eigenen Stärken auszuloten? Meist wird von „Verantwortung gegenüber der Familie und der Allgemeinheit“ geredet, und nicht selten sind es dieselben Leute, die mit 200 Sachen über die Autobahn brettern, sich von billigem Industriefraß ernähren und nebenbei noch generationenüberdauernde Spuren auf dem Planeten hinterlassen.
Ich bin jetzt kein durchgeknallter Extremsportler, werde aber oft wie einer behandelt. Meine Straftaten:

  • Ich laufe Ultramarathon bis 100 Kilometer, manchmal autark, nur mit Wasserrucksack und Snacks – ohne Handy, oft auf abseitigen Pfaden, die in keiner Karte stehen, und mache nachts Wild-Biwak im Wald. „Und was, wenn dir unterwegs etwas passiert?“, werde ich oft gefragt. „Das ist total unverantwortlich!“ (Ehrlich, das ist Pille-Palle! Ihr habt Badwater, Spartathlon oder den Barkley Marathon noch nicht gesehen.)
  • Ich gehe auf wochenlange Rucksacktour mit Zelt, Schlafsack, Proviant, dorthin, wo es keinen Handyempfang, keine Straße und manchmal tagelang keine Menschenseele zu sehen gibt. „Du bist vollkommen wahnsinnig! Denk an deine Familie! Im Notfall kostet das alles doch wahnsinnig viel Geld und die Allgemeinheit darf für deine Blödheit latzen!“ (Für mich nicht; ich bin Privatlatzerin.)

Der interessanteste Kommentar kam aus meiner Familie und lautete: „Du gehörst nicht zu uns. Kein normaler Mensch macht solchen Unsinn.“ Das habe ich als Kompliment genommen, denn ich kenne und bewundere Menschen, die weitaus „extremere“ Unternehmungen fahren. Es sind alles besondere Charaktere, stark, unabhängig, gelassen und von einem außerordentlichen Selbstvertrauen. Und sie alle lachen verdammt gerne!

Ein Bekannter ist jetzt zweieinhalb Jahre mit dem Motorrad auf Weltumrundung und sah sich irgendwann genötigt, einen seiner seltenen FB-Posts mit der dringenden Bitte zu beenden, endlich auf diese „Sei bloß vorsichtig!“-Mahnungen zu verzichten. Ja, er weiß, was er tut. Ja, er sei sich bewusst, dass er unterwegs sterben könne oder von Extremisten verschleppt oder beraubt werden. Ja, er wisse, dass er um schlechte Erfahrungen nicht herumkommen werde. Aber das Leben schmecke vom Sofa aus nun mal recht schal und habe nichts mit dem zu tun, was er unter LEBEN und ERLEBEN verstehe.

Eine andere Bekannte hat ihren Job und ihre Wohnung gekündigt, ihre Sachen eingelagert und wandert seit drei Jahren auf allen möglichen Trails, bloggt und schreibt darüber und ruht seitdem so sehr in sich, dass man sie für Buddha persönlich halten könnte. Ihre Familie hat mit ihr gebrochen.
Man kann sein Leben nur dann einzigartig machen, wenn man bereit ist, dafür Wagnisse einzugehen. Darunter versteht jeder etwas anderes. Für die einen ist es das Kündigen des sicheren Angestellten-Jobs, um als Kleinkünstler zu arbeiten, für die anderen der Verzicht auf tierische Lebensmittel („Und wo kriegst du jetzt deine Proteine her? Das ist doch ungesund!“), für wieder andere das Entdecken der Welt jenseits ausgetretener Pfade, Pauschalreise und Doku-Channel.
Wer das Glück hat, solche „extremen“ Charaktere zu kennen, wird schnell feststellen, wie sehr diese Menschen in sich ruhen und wie energiegeladen, positiv und neugierig sie sind. Sie lieben ihr Leben und können nicht genug davon bekommen!
Und dann geh mal raus auf die Straße und höre all den anderen zu. Keiner von denen hätte jemals Amerika entdeckt, die Seidenstraße bereist oder die Tomate nach Europa gebracht. Und keiner von denen weiß, wie grandios klein man sein kann, wenn man nachts vorm Zelt in einer einsamen Schneelandschaft sitzt und über einem die Nordlichter
wirbeln, während zehn Meter entfernt ein kleiner Polarfuchs darüber nachdenkt, wie er am besten an deine Vorräte herankommt.
Gar nicht erst die Komfortzone zu verlassen, ist natürlich sicher. Aber dann kann man sich seine eigene Existenz doch gleich sparen, wenn man sowieso nur exakt das Leben führt, das Millionen andere schon geführt haben

(Quelle: http://www.welt.de/gesundheit/article108721970/Fuenf-Tugenden-um-Extremsituationen-zu-ueberleben.html)

 

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