Ein Djinn ist ein Dämon, weder gut noch schlecht, erschaffen aus dem rauchlosen Feuer des glühenden Windes. Die Djinn wandeln unerkannt unter uns, wenn es ihnen gefällt. Sie besitzen Verstand, Bewusstsein und Willen. Ihre Kräfte sind den unseren weit überlegen und sie sprechen alle Sprachen.
Rebelliert ein Djinn gegen seinen Stand, so nennt man ihn Marid.
Benutze geweihtes Silber oder die Segenskraft Baraka, um dich vor der Macht der Djinn zu schützen und verschließe deine Ohren vor der Musik der Djinn …
(Die Chroniken des Thul-Dew)
Vorher
Im Gesicht seines Cousins las Fayaaz die gleichen Zweifel, die er selbst empfand: tausend Dollar für jeden, nur dafür, dass sie die Fremden über die Pisten ins Gebirge lotsten?
»Ihr bezahlt uns vorher«, sagte Fayaaz und rechnete damit, dass der Fremde ablehnen würde.
Doch zu seinem Erstaunen nickte der Mann und sagte in perfektem Arabisch: »In einer Stunde brechen wir auf.« Seine Stimme klang vollkommen emotionslos, aber Fayaaz glaubte für einen winzigen Augenblick den Geschmack brennender Luft auf der Zunge zu spüren, als schwele hinter den Worten ein steter Zorn, der jeden Augenblick hervorbrechen konnte. Fayaaz war erleichtert, dass der Fremde seine Sonnenbrille bisher nicht abgenommen hatte; er wollte gar nicht wissen, was sich hinter den schwarzen Gläsern verbarg. Wir hätten nicht zusagen sollen, dachte er unwillkürlich.
Auch sein Cousin Aniq sah nicht gerade glücklich aus. »Eine Stunde? Ihr habt es aber verdammt eilig«, sagte er. »Was sucht ihr eigentlich da oben?«
»Wir benötigen lediglich jemanden, der die befahrbaren Pisten ins Gebirge kennt. Die Navigation zu unserem Ziel übernimmt das GPS«, sagte der Mann. »Wir treffen uns vor dem Hotel, dann bekommt ihr euer Geld.« Er nickte ihnen zu und verließ die Teestube. Die Anspannung aller Anwesenden löste sich merklich, ein kollektives Aufatmen ging durch den Raum und die leisen Gespräche setzten wieder ein.
Aniq ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war, Fayaaz. Irgendwas stimmt mit denen nicht.«
»Ja, sie haben zu viel Geld.« Fayaaz lachte auf. »Diese Ungläubigen sind dumm. Tausend Dollar, Aniq!«
Der alte Mustafa beugte sich zu ihnen herüber. »Vorher sind sie drüben bei Hadir gewesen, Jungs. Aber niemand war bereit, die vier Fremden in die Berge zu führen. Nicht einmal Jamal wollte es machen, möge Allah zufrieden mit ihm sein.«
Aniq zupfte an seiner Lippe. »Jamal würde seine eigene Frau verkaufen, wenn sie nicht so häßlich wäre. Fayaaz, ich habe ein ganz dummes Gefühl.«
»Es sind Djinns«, sagte Mustafa ernst. »Ihr solltet Ayat Al-Kursi aufsagen, um euch zu schützen.«
»Djinns, wirklich?« In Aniqs Miene wechselten Interesse und Unruhe. »Woher willst du das wissen, Mustafa?«
»Heute ist Freitag. Sie verführen euch mit Geld, damit ihr dem Gebet fernbleibt. Sie sprechen unsere Sprache, aber unser Land kennen sie nicht.« Er hob den Finger. »Allein ihre Anwesenheit verursacht Unwohlsein, ist es nicht so?«
Aniq starrte Mustafa mit offnenem Mund an. Fayaaz schnaubte nur und dachte an das Handy, das er in Ouahids Laden gesehen hatte. Goldfarben und schwarz, ein Smartphone mit großem Bildschirm. Sein Vater erlaubte ihm zwar keines, aber er musste ja nicht alles wissen. Jeder besaß heutzutage ein Handy, sogar sein Cousin, obwohl der zwei Jahre jünger war als er selbst. Auf Aniqs Smartphone hatten sie sich im Schatten der alten Karawanserei Videoclips und Bilder von blonden Mädchen mit Schmollmund angeschaut. In Merija, wo alle Farben von der Sonne ausgeblichen und vom ständigen Sandwind abgeschliffen worden waren, schien das Handy mit seiner glänzend schwarzen Oberfläche aus einer anderen Welt zu stammen.
Aniq war erst vor einer Woche aus Rabat zurückgekehrt, um seine Familie zu besuchen. Er trug jetzt steife nagelneue Jeans und ein Hemd, auf dem sich ein gestickter Drachen wand, und er zog einen Hartschalenkoffer hinter sich her, dessen Rollen nach wenigen Metern in den sandigen Gassen ihren Dienst aufgegeben hatten. Die dürren Berberpferde an ihren Pflöcken vor dem Lehmhaus, den altmodischen Röhrenfernseher mit dem Spitzendeckchen und der selbst gebastelten Antenne obendrauf hatte Aniq mit höflicher Verachtung gemustert.
Eines Tages wollte Fayaaz auch in der Großstadt arbeiten. Nicht auf einer Baustelle wie Aniq, sondern in einem gläsernen Büroturm an einem Schreibtisch. Er hatte noch keine Ahnung, was für eine Art Arbeit das wäre. Irgend etwas mit Computern jedenfalls, mit wichtigen Telefongesprächen und einem dunklen Wagen mit Klimaanlage. Fayaaz hatte nicht vor, den Rest seines Lebens unter den Bäuchen der Berberpferde herumzukrabbeln und brüchige Lederriemen festzuzurren, während die Biester mit angelegten Ohren nach ihm schnappten. Sie mochten ihn nicht und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Fayaaz wollte fort aus Merija, und tausend Dollar wären ein guter Anfang. »Wir zeigen ihnen den Weg und kommen in zwei, drei Tagen wieder zurück. Leicht verdientes Geld, Aniq.«
»Sie sind weg, du kannst jetzt aufhören«, sagte Fayaaz und tastete zum wiederholten Mal nach den zehn Hundertdollarscheinen, die in seiner Hosentasche steckten. Er blickte zu der Hügelkuppe hinauf, hinter der die vier Fremden verschwunden waren. Der Wind verwehte bereits ihre Spuren, die sich zwischen den Felsen hindurch bergan schlängelten.
Aniq beachtete Fayaaz nicht. Er hockte im Schatten des Landrovers und betete die drei Suren Al-Ikhlas, Al-Falaq und Al-Nas zum Schutz gegen das Böse herunter, wieder und wieder. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich. »Ich nehme meine Zuflucht bei dem Herrn der Menschen, dem König der Menschen …« Den ganzen Tag ging das schon so, seit sie heute Morgen aufgebrochen waren. Fayaaz waren die belustigten Blicke der vier Fremden nicht entgangen, die sie unterwegs ausgetauscht hatten, während Aniqs ununterbrochenes Gemurmel sich mit dem Gebrumm des Dieselmotors vereinigt hatte. Fayaaz schämte sich für seinen Cousin aus der Großstadt, der sich hier draußen in der Wüste wie ein verschrecktes altes Weib benahm.
Gestern Vormittag waren sie mit dem siebensitzigen Landrover der Fremden losgefahren, Fayaaz auf dem Beifahrersitz, Aniq hinten.
Sein Cousin war so klug gewesen, sich vor Fahrtantritt nach den Trinkwasservorräten im Wagen zu erkundigen. Die Fremden hatten sich seltsame Blicke zugeworfen. »Trinkwasser. Natürlich. Wir werden ein paar Kanister mitnehmen«, hatte der Anführer gesagt, als gäbe es nichts Unwichtigeres.
Der Fahrer, ein kahlköpfiger Hüne, dessen Haut von den Fingerspitzen bis zum Hinterkopf mit ineinander verwobenen Mustern verziert war, hatte einen Briefbogen mit Koordinaten entfaltet und diese in das GPS eingegeben. Das edle rauchfarbene Papier mit einer goldenen vierzackigen Krone im Briefkopf hatte nur diese zwei Zeilen enthalten, nichts sonst. Und allein der Anblick dieses Briefes schien die Atmosphäre um die Fremden herum plötzlich mit Hass aufzuladen, obwohl sich in ihren Mienen rein gar nichts tat.
Fayaaz hatte den Fremden auf der Karte gezeigt, wo sich dieser Ort befand – in den Bergen in Richtung Norden, weitab von jeder verzeichneten Straße – und er fragte sich, was sie dort zu finden hofften. Fayaaz kannte die Gegend zwischen Merija und der algerischen Grenze fast so gut wie die alten Männer im Dorf, kannte jede versteckte Piste und jeden Ziegenpfad. Dort oben gab es nichts außer Sand, Geröll und Gestein!
Als die Nacht hereinbrach, hatten sie an einer Felsgruppe Halt gemacht, die Schutz vor dem ewigen Wind bot. Fayaaz und Aniq hatten sich etwas abseits in ihre Decken gewickelt, in die Sterne geschaut und sich leise über die Mädchen in Rabat unterhalten, während die vier Fremden zu Fuß die Umgebung erkundeten. Aniq, der Städter, hatte in seinen schicken Klamotten erbärmlich gefroren. Irgendwann war er aufgestanden, um ein wenig herumzuwandern und sich aufzuwärmen und Fayaaz war eingeschlafen.
Als er an diesem Morgen aufgewacht war, musste er feststellen, dass Aniq sich über Nacht in ein winselndes Bündel verwandelt hatte. Er wagte nicht mehr, die Fremden anzublicken. Er wollte Fayaaz auch nicht sagen, was geschehen war. Statt dessen betete er ein ums andere Mal die Schutzsuren herunter, während sie ihren Weg fortsetzten.
Vor etwa einer Stunde war der Fahrer von der Piste abgebogen und der Anzeige des GPS gefolgt, das sie bergauf gelotst hatte, zwischen den Felsen hindurch, bis sie den Fuß einer Anhöhe erreicht hatten. Am Himmel standen Wolken, die sich spiralförmig umeinander drehten – vielleicht ein beginnender Sandsturm, auch wenn Fayaaz noch nie ein solch eigenartiges Wolkengebilde gesehen hatte. Ein Schwarm großer Vögel kreiste unter der Wolkendecke, ansonsten gab es hier draußen nichts, nicht einmal die üblichen versprengten Ziegen.
»Ihr wartet beim Wagen«, hatte der Fahrer zu Fayaaz gesagt und den Autoschlüssel in seine Tasche geschoben. Misstrauischer ungläubiger Hurensohn, dachte Fayaaz. Mit seinen kräftigen Händen und den muskelbepackten Armen könnte er wahrscheinlich den Kopf eines Menschen wie eine Nuss zerplatzen lassen. Die Kinder in Merija waren heulend zu ihren Müttern gerannt, als sie ihn gesehen hatten.
Doch es war der Anführer, der Fayaaz‘ Unterbewusstsein jedes Mal panisch aufkreischen ließ, sobald dieser ihn mit seinem hinter den Brillengläsern verborgenen Blick streifte, und in ihm den dringenden Wunsch weckte, dreimal nach links zu spucken, um das Böse abzuwehren. Als schöbe dieser Mann eine Welle von Angst vor sich her, die sich auf jeden herabstürzte, der ihm im Weg stand. Dabei war sein Äußeres gar nicht so erschreckend. Er sah auf jene arrogante, kantige Weise gut aus, die Fayaaz mit westlichen Actionfilm-Schauspielern in Verbindung brachte. Um den Hals trug er einen ungewöhnlichen Anhänger, einen bronzenen Widderschädel, in dessen Augenhöhlen manchmal etwas aufglitzerte. Ein ganz normaler Mensch, der wahrscheinlich nur sehr schlecht gelaunt war. Aniqs unablässiges Gemurmel konnte einen wirklich wahnsinnig machen.
Fayaaz blickte jetzt wieder zu der Anhöhe hinauf. Diese Fremden waren keine abenteuerlustigen Touristen, soviel stand fest. Aber auch keine Wissenschaftler auf der Suche nach frühzeitlichen Scherben. Er wusste nur, dass sie Geld hatten. »Bist du nicht neugierig?«, fragte er Aniq. Doch der betete und betete leise in einem fort.
Mittlerweile stand die Sonne tief. Heute würden sie nicht mehr nach Merija zurückkehren.
Fayaaz seufzte und erhob sich. »Gib mir mal das Fernglas«, sagte er.
Aniq unterbrach sein monotones Gemurmel. »Was hast du vor?«
»Nachsehen, was sonst?«
»Hast du nicht gehört? Wir sollen hierbleiben!«
»Niemand sagt mir, was ich zu tun habe, erst recht keine Ungläubigen.« Er spie in den grauen Sand. Der trockene Untergrund sog den Speichelfleck sofort auf.
»Du solltest dich von ihnen fern halten, Fayaaz. Denk dran, was Mustafa gesagt hat. Das sind Djinns.« Widerstrebend zog er den Lederriemen über den Kopf, an dem das alte Fernglas hing. Es stammte noch von Fayaaz‘ Großvater. Das Gehäuse war mit Klebeband geflickt worden, nachdem eines der Pferde darauf getreten war.
»Und du bist jämmerlicher als ein unterwürfiger Hund. Djinns!« Kopfschüttelnd folgte er den Spuren der Fremden die Anhöhe hinauf. Er hoffte, dass Aniq ihm nachlaufen würde. Doch als er zurückschaute, saß sein Cousin immer noch im Schatten des Landrovers, hatte den Kopf wieder gesenkt und bewegte seine Lippen.
Oben ließ Fayaaz sich flach auf den Boden fallen. Er hob das Fernglas an die Augen und blickte in die Senke hinab. Dort unten gruben die vier Männer mit bloßen Händen im Sand. Sie hatten einen Körper zur Hälfte freigelegt. Jetzt richteten sie sich auf und betrachteten den Toten.
Ein heftiger Wind kam auf und heulte zwischen den Felsen. Die Vögel am Himmel stoben kreischend davon.
Fayaaz drehte an dem Rädchen des Fernglases, um das Bild schärfer zu stellen. Eine vertrocknete Hand, das braungegerbte Gesicht und ein Teil des Oberkörpers ragten aus dem Sand. Fayaaz hatte gute Augen; zwischen den mürben Kleidungsfetzen konnte er bleiche Rippenknochen unter dem aufgebrochenen Brustkorb erkennen. Die Gesichtshaut spannte sich straff über die Wangenknochen, brüchig wie trockenes Laub, die Lippen zu einem irren Lächeln verdorrt. Um das Handgelenk trug der Tote eine Armbanduhr, dessen Gehäuse die rötliche Sonne reflektierte.
Fayaaz hatte schon einen Toten gesehen, seinen Urgroßvater. Es war ein friedlicher Anblick gewesen. Der faltige Mann war während des Mittagsschlafs gestorben und in seinem Bart hatten noch ein paar Krümel von der letzten Mahlzeit gehangen. Er hatte ausgesehen, als würde er nur ein bisschen schlummern.
Aber dieser hier war keinen leichten Tod gestorben. Das, was Fayaaz von dem Körper sehen konnte, war mit alten Brandwunden, tiefen Schnitten und anderen Verletzungen gezeichnet. Wo die Augen sein sollten, befanden sich zwei schwarze Löcher. Fayaaz drückte die Faust gegen den Mund, um das Geräusch, das in seiner Kehle anschwoll, nicht herauszulassen. Allah, was war diesem Toten zugestoßen?
Der heiße Wind streichelte das glanzlose Haar und streute Sandkörnchen über die Leiche. Die Wüste gab ihre Toten nicht gern her; bald würde der Körper wieder im Boden verschwunden sein.
Der Anführer der Vier – Fayaaz hatte mitbekommen, dass sie ihn Tribun nannten – ging neben dem Leichnam in die Hocke und strich sanft über dessen Stirn. Dort war ein Zeichen in die Haut geritzt worden. Es hatte sich schwarz gefärbt, die aufgewölbten Wundränder waren eingerissen. Fayaaz kniff die Augen zusammen, aber er konnte das Symbol nicht erkennen.
Der tätowierte Hüne sagte etwas zu seinem Anführer, aber Fayaaz war zu weit weg, um die Worte zu verstehen. Also robbte er vorwärts und achtete darauf, keine Steine in Bewegung zu setzen, die ihn verraten könnten.
Die Finger des Anführers wanderten von der Stirn des toten Mannes hinab, glitten unter das zerfetzte Hemd und zogen ein Amulett hervor. Der spröde Riemen zerriss mit leisem Knacken. Kurz hob sich der Kopf des Toten aus dem Grund, sank zurück.
Einer der Männer sagte etwas; der Wind nahm die Worte auf und flüsterte sie Fayaaz zu. »Arbó sieht aus wie ein Mensch. Ob er etwas gespürt hat?«
»Die Könige werden ihm ganz sicher keine Gnade erwiesen haben«, knurrte der Hüne und beobachtete seinen Anführer, den Tribun, der in der Hocke neben dem Toten verharrte und das Amulett in seiner Hand betrachtete.
Fayaaz schluckte. Er sollte jetzt wirklich zum Wagen zurückkehren.
Stattdessen kroch er noch weiter voran, wobei er die Felsen als Deckung benutzte. Steinchen bohrten sich in seine Knie, die Hitze des Bodens brannte sich durch die abgeschabte Kleidung.
Die Sonne berührte jetzt den Horizont; das Licht um die Gruppe dort unten begann zu flimmern. Der Tribun beugte sich über das Gesicht des Toten, küsste ihn rechts und links auf die verbrannte Haut knapp über den Augenhöhlen. »Bitte für mich, wenn du kannst, mein Legat. Ich werde dem Siegel des Gehorsams nicht länger folgen«, sagte er. Die dunklen Wolken über der Anhöhe drehten sich unablässig um sich selbst, die Luft schmeckte nach Schwefel.
Die drei anderen tauschten überraschte Blicke. Ihr Anführer erhob sich und wog das Amulett in den Händen, bevor er es fortschleuderte. Es flog viel weiter, als ein Mensch es eigentlich hätte werfen können, über die Anhöhe, über Fayaaz hinweg, wirbelte durch die Luft, blitzte einige Male auf und verschwand auf der anderen Seite des Hügels. Fayaaz hielt den Atem an und lauschte vergeblich auf einen Aufprall.
Vielleicht hatte es ja Aniq am Kopf getroffen. Er unterdrückte ein Kichern.
Die beiden anderen Männer gesellten sich zu dem Hünen. »Er hat das Siegel des Gehorsams nicht angelegt«, sagte der mit dem geflochtenen Bärtchen und den blonden Haaren, die ihm in einem dicken Zopf über dem Rücken fielen. Fayaaz nannte ihn insgeheim den Wikinger. Vor einigen Wochen hatte er Der 13te Krieger gesehen, der Film, in dem Antonio Banderas als arabischer Gelehrter vor über tausend Jahren ins nebelkalte Nordeuropa reiste. Dieser Fremde hier erinnerte ihn an die Nordmänner aus dem Abenteuerstreifen.
»Ich bin nicht blind.« Der Hüne strich über seinen kahlen Schädel und seufzte. Der Laut stieg in die erkaltende Wüstenluft, wo er verwehte.
»Also hat er vor, Arbó zu rächen«, sagte der Wikinger.
»Du etwa nicht?« Die untergehende Sonne ließ die Tätowierungen des Hünen aufglühen. Fayaaz kniff die Augen zusammen. Die Muster auf der Haut des Mannes schienen sich zu bewegen. Und, ja, sie glommen in einem matten Rot. Die Luft flirrt, dachte er. In der Wüste sieht man ständig Dinge, die es nicht gibt. Er blinzelte einige Male, doch die Täuschung blieb.
»Er ist mein Tribun und er ist Arbós Nachfolger. Ich folge ihm, egal, welchen Weg er einschlägt«, sagte der tätowierte Hüne.
Der Wikinger legte den Kopf in den Nacken und blickte in den kobaltfarbenen Himmel.
»Aber er ist ein Krieger, kein Diplomat. Wir werden in Schwierigkeiten geraten.«
»Wir sind schon in Schwierigkeiten, Balman. Ich folge ihm«, wiederholte der Kahlkopf.
Auch der Dritte sagte: »Ich folge ihm. Bei allen Verlorenen, den Spaß lasse ich mir nicht entgehen.« Er zeigte ein raubtierhaftes Lächeln. Mit dem wilden schwarzen Haarschopf und dem glimmenden Blick sah er ziemlich diabolisch aus, tatsächlich wie ein leibhaftiger Djinn. Fayaaz spürte auf einmal den dringenden Wunsch, es seinem Cousin gleichzutun und die Schutzsuren aufzusagen. Er fühlte sich unrein.
»Wir werden nicht zurückkehren können, das ist euch klar. Nie mehr.« In die Augen des Wikingers sickerte Schwärze, so als habe jemand Tinte hinein gegossen. Fayaaz drehte wieder an der Scharfeinstellung des Fernglases. Es war keine Täuschung. »Allah beschütze uns«, flüsterte er heiser.
»Werden wir auch weiterhin Musik machen?«, fragte der Wikinger namens Balman.
»Natürlich. Wenn es uns gelingt, Arbó zu ersetzen«, sagte der Hüne.
»Durch einen Menschen etwa?« Spott lag in den Worten des Wikingers. »Ach, bei Barbatos! Er ist mein Tribun. Was soll’s, ich folge ihm.«
»Ihr seid euch also einig?« Der Anführer wandte sich seinen drei Gefolgsmännern zu. Um ihn herum flirrte die Luft. »Das ist gut. Wir werden die Könige finden, ganz gleich, wo auf dieser erbärmlichen Welt sie sich versteckt halten.«
Die Luft wurde schwer, sank auf Fayaaz nieder und presste ihn noch tiefer zu Boden. Er drückte die Stirn auf den Unterarm, versuchte, flach zu atmen. Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb.
Als er den Kopf wieder hob, hatte der tätowierte Hüne sich umgedreht und starrte zu ihm hinauf. Sah ihm direkt in die Augen.
Eiseskälte sickerte durch Fayaaz‘ Wirbelsäule, in seine Adern, betäubte jeden Gedanken. Er konnte den Blick nicht abwenden. Auch die Augen des Hünen waren ganz und gar schwarz. Alles Weiße, alles Menschliches war aus ihnen verschwunden. Der Mann setzte sich gemächlich in Bewegung. Jetzt kam er den Hang hinauf, direkt auf ihn zu. Fayaaz konnte sich nicht rühren.
»A’udhu bi kalimaati Allah at-tammaati min skulli shaytaanin«, stammelte Fayaaz. »wa haammah …« Die Worte rauschten in seinen Ohren. Ich suche Zuflucht bei den perfekten Worten Allahs vor jedem Satan und jedem giftigen Insekt und vor jedem bösen Blick …
Der Name Allahs, er sei gepriesen, riss ihn endlich aus seiner Betäubung. Fayaaz ließ das Fernglas sinken, sprang auf, warf sich herum und rannte über die Hügelkuppe zurück zum Landrover.
Neben dem Wagen stand Aniq und blickte nachdenklich auf eine bronzene Scheibe in seiner Hand. Er sah auf, als er Fayaaz über das Geröll springen hörte. »Schau mal, was durch die Luft geflo …«
»Wirf es weg!«, brüllte Fayaaz, während er in einer Fontäne aus Steinen und Sand den Hügel hinab schlitterte. »Fass es nicht an! Weg damit!«
Aniq starrte ihn an. »Was …?«
»Wirf es weg oder du bist verdammt! Allah möge uns vor den Djinns beschützen! Es ist ein Siegel aus der Unterwelt!«