Wie viel Realität steckt in meinen Romanen?

Vor ein paar Tagen ist genau die Frage gekommen, von der ich immer gehofft habe, sie würde nie gestellt werden:
»Sag mal, hast du all das, wovon du schreibst, selbst erlebt? Oder träumst du dir das alles zusammen?« Dazu dieser Blick, der besagt: Gib’s zu, Catalina, in deinen Gedanken bist du a) eine Psychopathin b) eine Nymphomanin c) eine gelangweilte Hausfrau oder d) auf Droge. Nichtzutreffendes bitte streichen.
Nun ja, die nüchterne Wahrheit ist: Ja. Und Nein. Oder doch, ein bisschen jedenfalls.
Wenn man nicht gerade eine Biografie schreibt, erfindet man. Am Anfang steht eine hanebüchene Idee. Meistens von der Sorte, die einen denken lässt: Nee, das ist Mumpitz. Ein Internat mit ZauberschüTreelern. Eine Romanze zwischen Glitzervampir und Schulmädchen. Ein kleinwüchsiger Kerl mit behaarten Füßen, der einen Ring vor einem gigantischen Auge verstecken muss … kein Mensch nimmt dir den Unsinn ab.
Man muss schon leicht neben der Realität stehen, um Bücher zu schreiben. Im Ernst. Der nackte Alltag mag zwar gute Ansätze für Geschichten bieten. Oft denke ich mir: Oh Mann, was mir da gerade passiert ist, hätte ich mir im Leben nicht besser ausdenken können! Aber das Drama, die Spannung, den Showdown, bestimmte Szenen und die Besonderheiten der Charaktere, die muss man dann doch erfinden.
Jeder Autor hat seine eigene Methode. Manche sammeln tausend Ideenschnipsel und fügen sie zu einem großen Ganzen zusammen. Andere nehmen sich einen Charakter vor, versehen ihn mit ein bisschen von Tante Gisela, Schulfreund Mick und dem schrägen Grinsen des netten Postbeamten hinterm Schalter, … Voilá, schon ist Steven, der Sidekick des neuen Romans fertig!
Wieder andere Autoren erfinden von Grund auf – oder glauben es zumindest; das Unterbewusstsein ist da ja fies und hat eine nette Sammlung angelegt. Man kann das Rad nicht neu erfinden. Jede Charaktereigenschaft hat es schon mal gegeben. In echt, im Film oder im Buch.
Karl May hat den Wilden Westen nie gesehen. Bruce Chatwin hingegen war schon so eine Art Backpacker, der ist zu Fuß durchs australische Outback gewandert.

Und wie ist das bei bestimmten Szenen? Bei Gewalt- oder Sexszene beispielsweise? Ich würde mich jetzt nicht als sonderlich promiskuitiv, blutdurstig oder nymphoman bezeichnen. Ich bin aber auch keine Anfang zwanzig mehr und auch nicht in der Klosterschule groß geworden. Bevor ich studiert habe, war ich Polizeibeamtin (so, jetzt ist es raus).
Wenn ich nicht gearbeitet oder studiert habe, dann war ich als Rucksackreisende unterwegs, bin durch die Welt getrampt, habe eine Menge interessanter und durchgeknallter Leute kennengelernt und die eine oder andere Erfahrung gemacht. Ich habe mich als Musikerin und als Zuhörende auf Konzerten, Festivals, Backstage herumgetrieben und bin ziemlich vielen ziemlich wilden Menschen begegnet. Aber wenn es um BDSM oder Fetisch geht, um Koks oder andere Drogen, muss ich jemanden fragen, der sich damit auskennt … ich habe in meinem Leben noch nicht einmal eine ordinäre Zigarette geraucht.
Als Polizistin auf Streife oder bei Krawallen in Fußballstadien bin ich natürlich mit Gewalt in Berührung gekommen. Ich kann immer noch eine Halbautomatik auseinandernehmen, zusammensetzen und abfeuern. Ich weiß, wie sich der Rückstoß eines Gewehrs oder eines MG anfühlt (letzterer ist erheblich erträglicher) und auch heute betreibe ich noch ein bisschen Kampfsport (Krav Maga und Kickboxen als realistischen Nahkampf).
Dennoch: Ohne Fantasie, ohne Erfindung und ohne viel, viel Recherche geht es einfach nicht! Ein Roman ist ein Gespinst aus tausend Ideen und nur drei oder vier davon kann ich aus eigener Erfahrung wiedergeben. Über alle anderen brüte ich, manchmal nächtelang. Ich versuche, mich in die Situation, den Charakter hineinzuversetzen. Versuche, zu fühlen, zu schmecken und zu hören. Jeder Charakter reagiert anders auf die Gemeinheiten, die ich ihm im Laufe der Geschichte angedeihen lasse. Meine Pflicht ist es, diesen Charakter realistisch, lebendig und vor allem nachvollziehbar handeln zu lassen.
Oft kommt es vor, dass die Figuren tatsächlich lebendig werden. Obwohl sie mit mir nichts gemeinsam haben, weiß ich während des Schreibens ganz genau, was sie tun werden. Weil sie so sind, wie sie sind. ich kann ihnen nichts andichten, das ihrem Wesen zuwiderläuft. Ab diesem Punkt bekommt der Roman seine eigene Realität. Ich muss nicht mehr erfinden und auch nicht mehr auf Recherche oder eigene Erfahrung zurückgreifen. Die Geschichte ist da. Sie lebt. Sie muss nur noch niedergeschrieben werden.
Ich kann weder sagen, dass ich die Geschichte erfunden oder zusammengeträumt habe oder sie aus realen Begebenheiten entwickelt habe.
Manche meiner Bücher spielen an realen Orten, andere haben ein Setting, das es nicht gibt. Altstätten beispielsweise ist eine Ausgeburt meiner Fantasie. Aber glaubt mir, in meinen Träumen bin ich durch die pittoresken Gassen gelaufen und habe Dinge gesehen, von denen ich stark bezweifle, dass ich sie je so erfunden hätte. Ich wette, in einer anderen Dimension gibt es Altstätten mit seinen steinernen Gargoyles und den geheimnisvollen düsteren Passagen tatsächlich.
Wer Geschichten schreibt, erlebt oft, dass er zum Medium wird – oder zur Marionette. Beim Schreiben erlebt man all das mit und für mich ist das Arbeiten an einem neuen Roman immer (!) ein Abenteuer, dessen Ausgang ich bestenfalls vage kenne. Wenn ich dann ENDE daruntertippe, kann ich durchaus sagen, ich habe alles, was dort steht, erlebt – aber leider nicht in dieser, unserer Welt.

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