Wir alle werden dümmer! … oder wie der Vibrator erfunden wurde

»Die größte Veränderung, die mir über die Jahre aufgefallen ist, ist das Verschwinden anspruchsvoller Bücher.«

Dieses Zitat stammt von James R. Flynn, der dem Flynn-Effekt seinen Namen gegeben hat. Jener Effekt beschreibt den stetigen Anstieg des Intelligenzquotienten in reichen Ländern. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wurden die Menschen um etwa 3 Punkte auf der IQ-Skala klüger.
»In den letzten 100 Jahren sind die IQ-Werte von Männern und Frauen gestiegen, doch die der Frauen sind schneller gestiegen«, hat James R. Flynn beobachtet. Früher lagen die Frauen im Schnitt 5 Punkte hinter den Männern, was u.a. damit erklärt wurde, dass sie weniger Bildungsmöglichkeiten hatten. Frauen besuchten seltener die Schule, der Zugang zu Universitäten war ihnen verwehrt, an Wissenschaft und Forschung nahmen sie nicht aktiv teil. Frauen galten als leicht debil und hysterisch; das war nach einhelliger Meinung der Ärzte (alles Männer) ihrer Gebärmutter geschuldet, dem Mistding.

 

Hysterie war eine Zeitlang eine echte Modekrankheit. Du hattest eine Migräne aus der Hölle? Dann warst du wieder mal hysterisch. Einen Herzanfall? Alles klar: Hysterie. Beim Ausritt vom Pferd gefallen und das Rückgrat gebrochen? Hysterie und zu doof zum Reiten.
Die männlichen Ärzte fanden dafür schnell ein Heilmittel: Frau brauchte bloß eine hysterische Krise, damit die Körpersäfte, die sich in der Gebärmutter stauten, wieder flossen und die Hysterie sozusagen rausgeschwemmt werden konnte. Bei dieser Krise – du ahnst es – handelte es sich um einen Orgasmus.
Damals allerdings gab es offiziell keinen weiblichen Orgasmus; nach allgemein gültiger Meinung empfanden Frauen von Natur aus keine Freude beim Sex. Rein-raus, Mann hat seinen Spaß, Frau ist schwanger, Job erledigt.
Darum sahen die Herren Doktoren kein moralisches Problem darin, einer Patientin die Genitalien zu massieren, um jene hysterische Krise auszulösen. Manche Ärzte gelangten ob ihrer Fingerfertigkeit zu einer gewissen gesellschaftlichen Berühmtheit als Wunderheiler. Anderen Medizinern war diese Methode auf Dauer zu anstrengend. Manchmal mussten sie eine geschlagene Stunde lang ihre Patientin mit geschickten Fingern bearbeiten, bevor sich endlich deren Wangen röteten.
Der britische Mediziner Mortimer Granville tüftelte daher 1883 (20 Jahre vor der Erfindung des Staubsaugers) ein Maschinchen aus, das wie ein Bohrer mit einer Kugel an der Spitze aussah und über ein Kabel von einer koffergroßen Batterie betrieben wurde. Er nannte es Nerven-Vibrator.
Obwohl Mortimer hartnäckig behauptete, es nur erfunden zu haben, um Muskelverspannungen bei männlichen Patienten zu lockern, erkannten seine findigen Kollegen bald, dass Granvilles Hammer, wie das Ding genannt wurde, ihnen bei der Behandlung von hysterischen Damen große Hilfe leisten konnte.
 Der Hammer bekam bald darauf verschiedene Aufsätze, um ihn auch bei Männern verwenden zu können. Vibrationen galten als Allheilmittel gegen Haarausfall, Impotenz und Übergewicht.

Vibrierender Massageapparat von 1915 (Foto: Carlos Neto/depositphotos)

Dies war die Geburtsstunde des Vibrators, der auch bei uns lange Zeit in Katalogen verschämt als Massagestab angeboten wurde. 1918 entwickelte eine US-Firma gar einen Massagestab, der sich an eine Küchenmaschine anschließen ließ und über Adapter für Mixer, Milchaufschäumer und Ventilator verfügte: Hilfe, die jede Hausfrau schätzen wird, lautete damals ein gängiger Slogan, oder Schenken Sie Ihrer Frau zu Weihnachten glänzende Augen und rosige Wangen!
Aber dann tauchte der erste Vibrator in Pornofilmchen auf und Sigmund Freud beschäftigte sich mit der weiblichen Lust, die es offiziell doch gar nicht gab. Plötzlich konnte niemand mehr so tun, als dienten Vibratoren nur dazu, einen Milchkaffee aufzuschäumen und nebenher Nackenverspannungen zu lösen.
Fortan wurde das Ding unter der Ladentheke verkauft, bis es in den Siebzigerjahren von der Frauenbewegung wieder hervorgekramt wurde. Endgültig salonfähig wurde der Vibrator 1988, als ausgerechnet die konservative Reagan-Regierung in einer Aufklärungsbroschüre über AIDS die Verwendung von Kondomen und vibrierenden Luststäben empfahl.

Du denkst jetzt vermutlich, dass ich gerade ganz schön vom Thema abgekommen bin. Eben noch haben wir darüber geredet, dass wir alle (vor allem die Frauen) immer schlauer werden, gleich darauf präsentiere ich dir die Geschichte von Granvilles Hammer.
Aber möglicherweise war ja die Erfindung des Vibrators eine der Ursachen dafür, dass Frauen nicht mehr als hysterische dumme Hühner angesehen wurden, die ihrer kapriziösen Gebärmutter hilflos ausgeliefert waren. Endlich durften sie studieren und forschen und andere Männerdinge tun.
Möglicherweise wollte ich mit dieser Anekdote auch nur meine Bildungsauftrag erfüllen, damit ich mir später auf die Schulter klopfen und sagen kann: »Seht ihr? Dank mir ist wieder jemand ein bisschen schlauer geworden, höhö.«

 

Der Flynn-Effekt also.
Laut ihm werden wir alle zehn Jahre etwas klüger und alle hundert Jahre steigt unser IQ um 30 Punkte, was den Unterscheid zwischen einem Durschnittstypen und einer Intelligenzbestie ausmacht.
 Erklärt wird dieser Effekt mit verbesserten Bedingungen für die Menschen, z. B. Bildung, Ernährung, Gesundheitsversorgung und Massenmedien.

Das sind großartige Nachrichten. Wir wachen morgens auf und sind ein bisschen schlauer als gestern, sozusagen. Ohne etwas dafür tun zu müssen.
Unsere Tochter Cheyenne-Dawn wird neben dem Schwimmtraining und dem Klavierunterricht ein Heilmittel gegen Krebs entdecken, das nach Erdbeere schmeckt (vermutlich wird sie es auf Instagram vermarkten, hübsch drapiert zwischen Lichterkette und Pampasgras).
Und Jürgen-Elias, unser süßer Enkel mit der Stupsnase, wird in seinem Baumhaus heimlich einen schicken schwarzen Todesstern bauen und anschließend die gesamte Galaxis unterjochen.

 

(Foto: Siora Photography/unsplash)

Jetzt kommen die schlechten Nachrichten: Seit 1995 sind sich Wissenschaftler einig, dass wir allesamt wieder dümmer werden.
In manchen Ländern verblöden die Menschen nur in bestimmten Bereichen, in anderen sinkt der IQ quer durch die Bank ab. Die Forscher sind sich einig, dass das nichts mit den Genen zu tun hat, denn dann müssten ganze Familiengenerationen dümmer werden, was aber nicht der Fall ist. Auch Migration ist nicht der Grund, wie Thilo Sarrazin gern behauptet, denn die Menschen werden überraschenderweise vor allem in Ländern mit recht geringer Einwanderung dümmer.
Die Ursache scheint also in der Umwelt zu liegen. Unser Bildungssystem hat sich verändert; in Schulen bleibt immer weniger Freiraum für die Entwicklung individueller Neugier jenseits des Lehrplanes und für abstraktes oder kreatives Denken. Schüler müssen nur noch Normen erfüllen.
Wissen ist jederzeit verfügbar; niemand muss es sich mehr erarbeiten. Man kann es googeln oder sich ein YouTube-Video anschauen (ohne vielleicht zu wissen, ob man gerade ordentlich zugeschwurbelt wird oder tatsächlich wissenschaftliche Erkenntnisse zu heilenden kosmischen Energien präsentiert bekommt). Früher haben wir uns die Autoroute zu Tante Constanzes Adresse eingeprägt (jene kapriziöse Tante, die alle drei Monate in eine andere Stadt zieht, auf deinen Sonntagsbesuch besteht und ärgerlicherweise deine stinkreiche Erbtante ist), heute benutzen wir das Navi.
Gute Nachrichten: Es wird immer noch viel gelesen. Vor allem Mädchen greifen wahnsinnig gern zu Büchern. Aber die Lesekompetenz der Schüler sinkt kontinuierlich und in der Folge auch die Qualität der späteren Schmöker.
Und damit sind wir beim Kernthema.

 

Anspruchsvolle Bücher finden weniger Leser, das ist kein Geheimnis. Weniger LeserInnen bedeutet weniger Umsatz.
Damit ein Roman ein Bestseller wird, muss er den kleinsten gemeinsamen Nenner bedienen, nämlich eine Sprache benutzen, die von möglichst vielen Lesern verstanden wird. Kurze, simple Sätze ohne Fremdwörter, ohne sprachliche Kapriolen oder Wortspiele.
 Die BILD-Zeitung hat das früh erkannt. Ihre Titelzeilen enthalten selten mehr als 5 fette Wörter. Die – nennen wir sie mangels besseren Ausdrucks – Journalisten der BILD benutzen einen ziemlich eingeschränkten Wortschatz, der sogar meinen Hund nicht überfordert (Spoiler: er kann gar nicht lesen).*
In vielen Rezensionen zu Romanen liest man oft den Satz: Ich kam schnell in die Geschichte rein. Das klingt doch erst mal toll. Die Leserschaft muss sich nicht mit einem eigenwilligen Erzählstil oder einer ungewöhnlich poetischen Sprache herumplagen, sie muss sich nicht an den Sprachstil der AutorIn gewöhnen, weil es gar keinen individuellen Sprachstil gibt. Die AutorIn wiederum kann ihre Bücher flott runterschreiben, ohne sich lange mit literarischen Finessen aufhalten zu müssen.

 

Unsere Sprache erstarrt zunehmend. Sie wird in ein Korsett gepresst, das keine Kreativität erlaubt. AutorInnen, die mit der Sprache spielen und ihre Regeln zugunsten einer lebendigeren Geschichte dehnen, finden sich immer seltener, was nicht verwundert. Wer will schon ein Buch schreiben, das wie Blei in den Regalen liegt. Gerade im Unterhaltungsgenre und besonders im Bereich Romance wird es immer schwieriger, die Bücher stilistisch voneinander zu unterscheiden. Irgendwie liest sich alles gleich.
Niemand möchte seine LeserInnen verprellen, indem er hartnäckig Wörter wie hanebüchen verwendet (außer mir, aber ich habe bekanntermaßen nicht alle Tassen im Schrank) oder ungewöhnliche, ja geradezu poetische Formulierungen benutzt.
Klischees mögen langweilig sein, aber ein Roman, bei dem der Lesende nach jedem Satz über den Sinn des Geschriebenen nachdenken muss, ist kein guter Roman. Bücher sollen vorrangig unterhalten, vom Alltag ablenken.
Einerseits sind niederschwellige Leseangebote natürlich super. Wer in der Schule dank des leidenden jungen Werthers ein lebenslanges Bücher-Trauma entwickelt hat, freut sich über Schmöker, die ihm das Leben nicht schwer machen. SchülerInnen werden viel zu früh mit drögen, schwer verdaulichen Texten gequält und wir sollten froh sein, wenn sie als Erwachsene dann doch mal neugierig in einen Blut-und-Gemetzel-Thriller reinschauen.
Andererseits werden wir von Romanen überschwemmt, die sich in ihrer Beliebigkeit einer wie der andere lesen. Der Plot wurde von anderen AutorInnen bereits vielfach erfolgreich benutzt, die Charaktere stoßen niemanden vor den Kopf und man kommt schnell in die Geschichte rein, weil im Präsenz und aus der Ich-Perspektive geschrieben wurde. Buch wird gekauft, Buch wird gelesen, niemand stolpert über Textstellen. Alle sind glücklich. Niemand wurde verstört.

 

(Foto: thought catalog/unsplash)

Vielleicht stellst du eines Tages fest, dass dir allmählich langweilig wird und du machst dich auf die Suche nach Büchern, die mit Sprache ein bisschen anders umgehen. Nach AutorInnen, die ein bisschen neben der Mainstream-Spur erzählen, ohne dir gleich das Gefühl zu geben, du seist zu dumm, ihre Bücher zu verstehen.
Es gibt sie. Wir müssen nicht einmal im FAZ-Feuilleton herumstöbern, um auf ungewöhnliche, berührende Perlen zu stoßen, die noch lange nachhallen. Sie finden sich auch in unserem Lieblingsgenre, der Unterhaltung. Hier gibt es überraschend viele SchriftstellerInnen, die uns überraschende Romane präsentieren.
Und plötzlich öffnet sich wieder die Welt, die vorher so hastig in lieblose, simple Sätze gedrückt worden ist.
Die Sprache atmet durch. Man lernt Charaktere kennen, so lebendig und außergewöhnlich, dass man sich fragt, wo sie sich die ganze Zeit versteckt haben.

unter deck von Sophie Hardcastle ist ein solcher Roman, oder auch Das unsichtbare Leben der Addie LaRue von V.E. Schwab. Beiden Romanen merkt man die Leidenschaft beim Schreiben an.
Je mehr gute Bücher ich lese, desto kritischer stehe ich selbst meinen eigenen Romanen gegenüber. Ich schreibe nun mal in einem Genre, in dem ein gewisser Status Quo herrscht. Bücher werden dort zu Nachschub degradiert; man darf sich nicht allzu viel Zeit mit dem nächsten Roman lassen, oder man ist weg vom Fenster. Lange Kapitel führen zum Abzug in der B-Note. Recherche spielt eine immer unwichtigere Rolle. Das Buch verkauft sich auch dann blendend, wenn einem die Recherchefehler beispielsweise schon im Untertitel auf dem Cover ins Gesicht springen. Hauptsache, die Protagonisten haben den Sex ihres Lebens.

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften haben gemeinsam eine Studie veröffentlicht, die nachgewiesen hat, dass sich der deutsche Wortschatz seit 1905 in der Belletristik am wenigsten weiterentwickelt hat.*
Bei JournalistInnen und AutorInnen von Gebrauchstexten hingegen steigt der Wortschatz stetig an, vermutlich weil sie sich mit der sich ständig verändernden Welt auseinandersetzen.
Wie es um die Entwicklung der textlichen Kreativität steht, wurde allerdings nicht erforscht.
 Ich bin nämlich überzeugt, dass es immer wagemutige SchriftstellerInnen geben wird, die nicht nur für den schnellen Konsum tippen, weil es eben immer auch LeserInnen geben wird, für die ein neues Buch wie der Auftakt zu einem ungewissen Abenteuer ist. Wir merken ja bereits im Alltag, wie sich unsere Sprache stetig verändert – ob es nun Jugendsprache ist oder das Gendern. Dümmer werden wir nur, wenn wir uns Veränderungen und dem Spaß an der Kreativität widersetzen. Darum freue ich mich über jede AutorIn, die die Leserschaft nicht bloß abfüttern will. Und es ist mir piepegal, ob das Ergebnis eine wunderbare Liebegeschichte zwischen zwei Robotern oder ein Thriller über einen sympathischen Kannibalen *** ist. Hauptsache, mein Herz schlägt beim Lesen ein wenig schneller.


* »Die BILD-Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein.« (Max Goldt) Treffender wurde es wohl nie fomuliert.
** KLEIN, Wolfgang (2013) Von Reichtum und Armut des deutschen Wortschatzes. In Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.), Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, S. 15–56. Berlin: De Gruyter.
*** Die Blake-Serie von Jack Heath. Timothy Blake dürfte der antiheldischste Antiheld seit Hannibal Lecter sein, allerdings ist er nicht annähernd so gut angezogen. Und er ist echt voll sympathsich trotz seines … Hobbys.

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