Heute geht’s weiter mit meiner sehr lockeren Reihe über das Schreiben. Glaubt bitte nicht, ich hätte die Autoren-Weisheit mit Löffeln gefressen! Ich gebe hier lediglich meinen persönlichen Senf zu einem Thema, das so alt ist wie … ach, lassen wir das.
Der Handlungsort oder auch das Setting ist mehr als nur der schnöde Hintergrund für die Geschehnisse im Roman. Das Wo ist meiner Meinung mindestens so wichtig wie die Geschichte selbst, genauer: Das Wo ist Teil der Geschichte!
Es macht einen großen Unterschied, ob mein Showdown an einem karibischen Strand in glühender Mittagssonne stattfindet, während die Palmwedel träge und trocken herabhängen und die Gischt die Hosensäume durchnässt, oder auf einer vergessenen Burgruine in einer Winternacht, wo die Kälte sich durch die Kleidung frisst wie eine Klinge aus Eis.
Der Ort trägt die Atmosphäre der Szene in sich; er bereitet die Bühne für das Geschehen.
Ich bin ein Kopfkinomensch. Bücher, in denen die Umgebung nur flüchtig gestreift wird, funktionieren bei mir nicht und meist lege ich sie bald schon frustriert beiseite
Der Ort ist mehr als nur eine modern eingerichtete Wohnung, ein Haus mit schmutziggrauer Fassade oder eine baumlose Einöde. Jeder Ort hat seinen eigenen Geruch. In der schicken Designerwohnung riecht es vielleicht durchdringend nach Desinfektionsmittel und Raumerfrischer. Das allein sagt schon mehr über den Bewohner aus als jede weitere Beschreibung.
Dort oben in der baumlosen Leere schmeckt man kaltes Gestein und einen Hauch von wildem Tier. Der eisige Wind zerrt an der Kleidung. Unter den Schuhsohlen lösen sich kleine Steine und rollen bergab; hin und wieder quert man harschige Schneefelder. Kein Laut ist zu hören außer deinem Atem und dem Knacken der Schneekruste. Um dich herum ragen Berge auf, die Gipfel verhüllt von tief hängenden Wolken. Noch ist nichts geschehen, aber bereits jetzt haben wir Bilder im Kopf und eine gewisse Erwartung.
Wenn du selber schreibst, solltest du den Handlungsort als weitere Figur deines Romans betrachten. Gib ihm ein unverwechselbares Aussehen, gib ihm besondere Eigenschaften mit. Lass ihn einzigartig sein. Umso nachhaltiger wird deinem Leser die Szene in Erinnerung bleiben, die dort spielt. Es gibt viele großartige Beispiele für atmosphärisch dichte, Bilder-erschaffende Romane, in denen Orte eine massgebliche Rolle spielen. Das gilt nicht nur für epische Fantasy-Romane wie dem „Herrn der Ringe“.
„Schiffsmeldungen“ von Annie Proulx ist so ein Kopfkino-Buch, das lange nachwirkt, die „Gormenghast“-Reihe von Mervyn Peake, „Die Amerikanische Nacht“ von Marisha Pessl oder „The Road“ von Cormac McCarthy. All diese Bücher wären ohne das Setting eher mittelprächtig, wage ich zu behaupten.
Die Beschreibung des Handlungsortes sollte eines jedenfalls nicht sein: eine Beschreibung. Der berühmte Autoren-Leitsatz „Show, don’t tell“ sollte hier ganz besonders zu Herzen genommen werden. Dem Leser eine schnöde Runtererzählung des Drumherum aufzutischen, führt höchstens dazu, dass die Augen gelangweilt über die Worte hinweggleiten.
„Neben der Kirschholzkommode im glänzenden Rotbraun stand ein Bücherregal mit ledergebundenen Büchern. Eine Vase mit welken Rosen zierte den Tisch in der Mitte, um den sich ein Dutzend Stühle gruppierte. Der Perserteppich war in roten, blauen und braunen Farben gehalten und die Wände mit einer Blumentapete verkleidet. Überall lag Staub.“
Ja, schön.
„Sie stolperte über die Teppichkante und ging zu Boden, landete mit dem Gesicht direkt auf dem orientalischen Blumenmuster in Gold und Blau. Aus den dicht geknüpften Wollfäden stieg ihr der penetrante Geruch von Hundepisse in die Nase. Sie rappelte sich auf und fand Halt an der Tischkante. Ihre Finger ließen einen dunklen Abdruck in der feinen Staubschicht auf dem rotbraunen Holz zurück. Kleine Partikel tanzten im Sonnenlicht, das durch das trübe Fensterglas fiel und die barocken Ornamente der verblichenen Tapete zum Leuchten brachte. Aus dem Strauß toter Rosen, die mit gesenkten Köpfen in einer Vase steckten, löste sich ein Blütenblatt und segelte lautlos herab.“
Auch kein Meisterwerk, aber schon besser.
Die Frage, ob man den Ort persönlich gesehen haben muss, um ihn beschreiben zu können, lässt sich mit einem eindeutigen Jein beantworten 🙂
Wenn ich über einen fiktiven Raum schreibe wie den eben, dann sollte meine Fantasie ausreichend sein, um ihn mir bildhaft vorstellen zu können und ihn mit einigen Attributen zu versehen, die ihn von hunderttausend anderen Räumen unterscheiden.
In meinen Romanen benutze ich sowohl fiktive als auch reale Orte. Das Städtchen Altstätten in DEMONIZED beispielsweise ist eine reine Erfindung. Ich habe mir einen Ort erschaffen, der die Story hervorragend trägt und ihre fantastische Düsternis unterstreicht. Heidnische Vergangenheit, mittelalterlicher Stadtkern mit engen Kopfsteingassen, dicht an dicht stehenden Häusern und vielen geheimnisvollen Spuren aus der Vergangenheit. Altstätten ist gewürzt mit Eindrücken von realen Orten, die mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben sind. Es ist ein Hauch Bamberg darin, ein Eckchen Rothenburg, eine Prise Brügge, eine Messerspitze Amsterdam und und ein Teelöffelchen Kulmbach. Und ich habe längst noch nicht ganz Altstätten erkundet. Ich weiß, dass es noch viele Geheimnisse verbirgt, die ich nach und nach ans Licht holen werde.
Schreibe ich über reale Orte, dann sind es in der Regel Orte, die ich kenne. Klar kann man sich heute vieles aus dem Internet zusammensuchen, einen Reiseführer studieren und Fotos betrachten, die andere Menschen geknipst haben. Deswegen kennt man den Ort aber noch lange nicht. Er wird eindimensional bleiben, bloße Kulisse – ein bemaltes Bettlaken, das man im Hintergrund aufgehängt hat.
Vor einiger Zeit habe ich ein Buch gelesen, das auf einer Nordseeinsel spielte. Und die ganze Zeit fühlte ich mich wie durch eine Glasscheibe vom Geschehen getrennt. Die Insel wurde auf eine Weise beschrieben, die mir das Gefühl gab, durch einen typischen Reiseführer zu blättern. Keine Spur vom Dünengras, das an der Wade kitzelt, von dem fischigen Geruch, der zurückblieb, wenn der Schlick in der Sonne trocknete, oder vom ollen Hinnerk, der in seiner roten Thermoskanne Selbstgebrannten mit sich herumträgt, der sogar den Teufel persönlich aus den Latschen hauen würde. Alles, was mir dort präsentiert wurde, war so belanglos und schon-tausendmal-in-Tourismusbroschüren-gelesen, dass mich der Roman kaltließ und ich ihn fast schon erleichtert schloß.
Ich bin gerne unterwegs und entdecke fremde Orte. Entweder wandere ich mit Zelt, Rucksack und Schlafsack durch die Welt oder ich klettere in hiesigen Lost Places herum, von denen es zu meiner Überraschung mehr gibt, als ich dachte. Allein in unmittelbarer Nähe zu meinem Haus finden sich mehrere ehemalige Schachtanlagen, teilweise mitten im Wald, verlassene Fachwerkhäuser, leere Militärbauten, verfallene Radarstationen, Feuerwehrtürme, pittoreske gigantische Stahlwerke, geflutete Gasometer undsoweiterundsoweiter.
Sich fremde Orte zu erwandern, liefert tiefere und nachhaltigere Eindrücke, als es eine Pauschalreise jemals könnte. In der norwegischen Tundra durfte ich einige Tage lang Rentierjäger begleiten, in Nordindien habe ich vor Sonnenaufgang die Sadhus beim Bad in der Stadt der Toten beobachtet, während wenige Meter entfernt eine Leiche den Ganges entlangtrieb. In den rumänischen Karpaten wurde ich beinahe täglich von Bauernfamilien oder Hirten eingeladen und habe die verrücktesten Geschichten serviert bekommen. In der Sahara hat mein tunesischer Führer mir vergessene Karawansereien und Moscheen, halb begraben unter dem Sand, gezeigt. Und in Südchina habe ich gelernt, dass Luft tatsächlich patschnass schmecken kann.
Man muss als Autor natürlich nicht gleich zum Abenteurer werden und sich das wilde Kurdistan erwandern. Hat Karl May auch nicht gemacht. Aber wenn man hierzulande mal ausgetretene Pfade verlässt und seine Heimatstadt auf einem Nachtspaziergang erkundet oder für eine Weile die Augen schließt und versucht, die Umgebung zu hören und zu riechen, statt sie zu sehen, dem tun sich schon neue Horizonte auf.
Benutze alle Sinne, wenn du einen Ort beschreiben willst, und vergiss vor allem nicht, welchen Eindruck er auf dich macht. Fühlst du dich dort wohl? Empfindest du ihn als licht und warm, oder jagt er dir Schauer über den Rücken? Beengt er dich? Wie klingt es, wenn du laut rufst oder flüsterst? Denkst du, dass hier mal jemand gestorben ist? Wann hat zuletzt jemand hier laut gelacht?
Nicht jedem Leser und Autor sind Orte wichtig. Manche legen ausschließlich Wert auf eine gute Handlung, die vorangetrieben werden soll. Da bremsen Beschreibungen nur aus. Es gibt viele Romane, die auf diese Weise funktionieren, sogar sehr gut. Aber um wie vieles wären solche Geschichten wohl besser, wenn sie von einem atmosphären, bildhaften Setting umgeben wären?
Wenn du dich ein bisschen üben willst, versuch mal Folgendes: Nimm deinen Lieblingsblumenladen und stell dir vor, dass eine wichtige Szene aus deinem Horrorroman dort spielen soll. Oder schreibe umgekehrt eine besonders romantische Szene in einer Fertigungshalle mit Fließband und industrieller Geräuschkulisse. Schau genau hin und pick dir die Details heraus, die deine Szene unterstreichen können. Das können auch totale Gegensätze sein. Der Ort ist das Tablett, auf dem das Geschehen serviert wird. Du kannst zum schnöden Pappteller greifen oder zwischen der polierten Silberplatte und dem grob geglätteten Fichtenholzbrett wählen.
Wie wichtig ist dir als Leser der Handlungsort? Liest du darüber hinweg oder tauchst du gern mit allen Sinnen ein?