Abenteuer Schreiben – Teil III: Die Recherche und ich

Ich gestehe, ich bin ein Recherche-Junkie.
Und das hat nichts mit Prokrastination zu tun (ehrlich!) Ich stehe einfach aufs Herumforschen und neue-Welten-entdecken. Egal, zu welchem Thema man Hintergrundwissen benötigt: Wenn man tief genug taucht, stößt man immer auf eine interessante Subkultur. Selbst die Bierdeckelsammler haben ihr jährliches Tauschbörsen-Highlight, ihre eigene Sprache („Die ’67-Runddeckel-Edition der nordischen Brauereien ist ein Zellulose-Fail, was die Faserstruktur angeht!“) und ihre Szene-Helden, möchte ich wetten. Bisher musste ich noch nicht über die weite Welt der Bierdeckelsammelei forschen, aber wenn, würde ich sicher Überraschendes entdecken.
Ich verstehe Recherche nicht nur als Materialsammeln, damit mich versierte Leser nicht anschließend in ihren Rezensionen niedermachen („Es gab nach den Achtzigern keine lindgrünen Oktagon-Bierdeckel in Niederbayern, daher nur ein Stern für dieses dilettantisch recherchierte Machwerk“), sondern gern auch als „Wow, was es nicht alles gibt! Das muss ich unbedingt ausprobieren!“
Ihr merkt, worauf es bei mir hinausläuft. Als Berufs-Rechercheuse wäre ich eine totale Niete, weil ich zum Festbeißen neige, statt mir eine halbe Seite Notizen zu machen, anschließend die Bücher zuzuklappen und weiterzuschreiben.
Bildschirmfoto 2015-05-03 um 15.55.10Als ich beispielsweise über Toni, die Protagonistin in ODE AN DIE NACHT schrieb, musste ich mich über Parkour schlaumachen, diese akrobatische und sehr beeindruckende Urban-Sportart, bei der es darum geht, möglichst schnell und effizient mit eigener Körperkraft von A nach B zu kommen.
Am Anfang jeder Recherche stand auch bei mir das gute alte Wikipedia. Aber bitte, liebe Autoren, belasst es nicht dabei! Wiki ist toll, um einen Startpunkt zu haben, nur sollte man nicht vergessen, dass jeder, wirklich jeder Depp seinen Senf dort hineinschreiben kann.
Vom Parkour-Wiki kam ich erst auf digitale (Webseiten, Aufsätze, Artikel, Videos), dann auf analoge Infos zu dem Thema. Theoretisch wusste ich jetzt schon so einiges. Und wahrscheinlich hätte das ausgereicht, um nicht als völliger Parkour-Trottel dazustehen. Aber nachdem ich soviel darüber gelesen hatte, musste ich das unbedingt mal selber … hüstel.
In der Nachbarstadt gibt es eine Parkourgruppe, die rein zufällig in der gleichen Halle trainiert, in der mein Männe seinen Kampfsport betreibt. Da habe ich dann mal mitgemacht. Es war, hm, lustig. Und anstrengend. Und extrem aua. Und cool – zumindest, wenn die versierten Traceure so nebenher über einen Kistenturm sprangen und anschließend noch im Flic-Flac durch die Halle tobten.
Bei mir war es, nun, nicht ganz so anmutig. Würde ich ein Arbeitszeugnis über meine Parkour-Recherche bekommen, würde wohl drinstehen: Sie hat sich stets bemüht.
Aber immerhin wurde mir der Grundgedanke nahegebracht, der hinter diesem Sport steht und von dem man in den tollen Texten kaum etwas spürte; dieser Hauch von Anarchie und die stille Auflehnung. Der urbane Raum gehört nicht der Stadtverwaltung und nicht dem Gesetz, sondern den Menschen. Wir lassen uns nicht von Beton und Gittern in die Schranken weisen.
Letztendlich habe ich viel, viel mehr „recherchiert“ (und mir mehr blaue Flecken geholt), als wirklich notwendig waren für das Buch. Aber ich hatte meinen Spaß und meinen Horizont um ein gerüttelt Maß erweitert. Außerdem weiß ich jetzt, wie verdammt schwierig es ist, lässig dreinzuschauen, während man einen Salto über einen Bock macht.
Schlecht recherchierte Bücher ärgern mich maßlos. Dabei ist es egal, ob es ein Indie- oder ein Verlagsautorenbuch ist. Man muss in der Regel nicht in geheime Archive einbrechen, um sich über sein Thema schlauzumachen. Heutzutage sind fast alle Informationen nur ein paar Mausklicks entfernt. Und wenn man sich dann noch von seinem Schreibtisch bequemt und die Nase in den Wind hält, wird man mit Einblicken belohnt, die den Roman noch glaubwürdiger machen. Sei es Fachsprache, seien es Anekdoten oder diese Insider-Kleinigkeiten, die einen „Wissenden“ vom Noob unterscheiden.
Romane sind Fiktion. Als Autor hat man das Recht oder sogar die Pflicht, seine Fantasie zu bemühen. Die Recherche ist das Fundament der Geschichte, das hier und da vorblitzt und die Glaubwürdigkeit der schreiberischen Schöpfung untermauert, egal, wie abgedreht die sein mag.
Ich bezweifle, dass die Welt der Bierdeckelsammler von Ehrenkodizes geprägt ist, die notfalls mit Gewalt verteidigt werden, dass die Ovaldeckel-Fraktion gegen die Quadratdeckel-Freunde traditionsgemäß mit Knüppeln vorgeht, wenn sie aufeinandertreffen. Aber, hey – why not? Es ist dein Roman, kein Tatsachenbericht! Also erzähle deine Geschichte. Wenn du die Wahrheit kennst, weißt du auch, wann und wo du sie verändern darfst, ohne dich lächerlich zu machen.
Würze deine Fantasie ordentlich mit der Realität – und deine Glaubwürdigkeit wird Quantensprünge machen. John Le Carré ist ein gutes Beispiel, aber auch Noah Gordon mit seinen „Medicus“-Romanen oder das großartige „Wasser für die Elefanten“ von Sara Gruen.
Bernard Cornwell, der die Artus-Trilogie geschrieben hat und historisch sehr bewandert ist, hat das Kunststück geschafft, dass ich ihm jedes Wort geglaubt habe, was er über Merlin, Nimue und Morgana schrieb, einfach, weil er die Welt seines Romans genau kannte. Meiner bescheidenen Meinung ist seine Interpretation der Artus-Legende die beste, weil lebendig, realistisch und angenehm schnörkellos erzählt. Und ich verwette meinen Hund, dass er auch weiß, wie sich ein mehrere Kilo schweres Zweihänder-Schwert anfühlt, wenn man es über den Kopf schwingt. Wahrscheinlich treibt er sich in Reenactmentkreisen herum und trinkt am Legerfeuer Met aus einem Kuhhorn.

Ich habe keine Ahnung, ob ich jemals ein Buch über die mörderischen Facetten des Bierdeckelsammelns schreiben werde. Bisher habe ich meist Themen aufgegriffen, zu denen ich entweder eine gewisse persönliche Affinität besitze (sei es Musik, Sport oder das Herumfahren auf schweren Maschinen) oder für die ich mich begeistern kann. Okay, mich kann man sehr leicht begeistern. Ich neige dazu, alles auszuprobieren. Mit meiner Höhenangst habe ich mich sogar ans Freeclimbing gewagt und mich zu einem abenteuerlichen Klettertrip in der französischen Verdon-Schlucht überreden lassen (nicht die klügste Idee, die ich je hatte). Danach gingen meine Nerven zu Fuss nach Hause, aber immerhin weiß ich jetzt, welche Gerüche und Geräusche Leonie dort wahrgenommen hat. Das Heulen in der Schlucht ist wirklich gruselig. Und es gibt dort Kondore!
Bildschirmfoto 2015-05-03 um 15.54.46Worauf ich hinaus will: Wenn du ein Buch mit Prügelszenen schreiben willst, dann guck nicht nur Fight Club („Nein, Schatz, das ist nur zu Recherchezwecken und nicht wegen Brad Pitts göttlichem Sixpack!“), sondern raff dich mal zu einem Probetraining in einer Self-Defence-Schule auf. Mit der Faust auf einen semi-weichen Gegenstand zu schlagen, ist eine interessante Erfahrung.
Wenn du über fiese Rockerbanden schreibst, dann lies nicht nur die entsprechenden FAZ-Artikel, sondern besuch mal die öffentliche Party eines einschlägigen OMCG oder ein Kick-off. Was man da so aufschnappt, kann dir keine Zeitung der Welt bieten. Und mit etwas Glück findet man jemanden, der einem ein bisschen mehr verrät.
Du willst deinen Held, der bisher nur zu Fuß in seinem Moloch von Stadt unterwegs waren, zu Pferde übers Land schicken? Dann weißt du, was zu tun ist. Und dann kannst du zumindest ansatzweise berichten, wie sich der Hintern deines armen Helden anfühlt, wenn er nach vier Tagen steifbeinig aus dem Sattel rutscht.
Ah, und mein persönlicher, wahnsinnig geheimer Geheimtipp: Greif zum Telefon und ruf einen Experten an. Die Menschen teilen gern ihr Wissen, wenn man nett fragt, oder sie leiten einem zum nächsten Experten weiter. Diese Erfahrung habe ich bei meiner Recherche zum Containerhafen Altenwerder mit seinen Science-Fiction-Laderobotern gemacht, die dort führerlos herumkurven. Ich wurde sogar zu einer internen Besichtigung eingeladen im Rahmen einer Führung für Logistikunternehmen, wo es dann um Dinge ging, von denen ich noch weniger Ahnung hatte und die man mir Schiffsfracht-Amateur sehr geduldig nahegebracht hat. Ganz tolle Leute, die Damen und Herren vom Containerhafen.

Fazit: Ja, das klingt alles nach Action-Recherche. Und nein, man kann und muss nicht immer alles persönlich ausprobieren. Bei der Recherche zu Kapitalverbrechen oder Kannibalismus würde ich auch dringend davon abraten.
Habe ich schon erwähnt, dass Kannibalismus in meinem aktuellen Projekt vorkommt? Ich habe Nachforschungen darüber angestellt, wie Menschenfleisch wohl schmeckt (Nur in der Theorie. Bitte: Ich bin Veganerin!) und bin auf interessante Dinge gestoßen (es schmeckt übrigens nicht nach Hühnchen …). Und bei historischen Themen wird es eh schwer mit dem Self-Testing; da bleibt nur der Besuch bei Reenactern oder Experimentalarchäologen.
Als Autor sollte man zumindest einen Fuss über die Schwelle setzen, wann immer man die Möglichkeit dazu hat, und mal fremde Luft schnuppern. Ist gut für den eigenen Horizont. Oder man sollte zumindest jemandem zuhören, der in dieser Welt zuhause ist, über die man schreiben möchte.
Es gibt eine erfolgreiche Verlagsautorin (deren Name mir glücklicherweise entfallen ist), bei der die Lektorin die Recherche übernimmt. Zwei Fragen drängen sich mir da auf:
1. Funktioniert das?
2. Wo bleibt denn da der Spaß?

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Warenkorb
Nach oben scrollen