Ode an die Unvernunft

Darf man heutzutage eigentlich noch unvernünftig sein? Mit unvernünftig meine ich nicht „bei Rot über die Ampel gehen“ oder „am Wochenende im Club versacken“, sondern die Sorte Unvernunft, die mit einem herzhaften „Ihr könnt mich mal!“ dem gesellschaftlich anerkannten Dasein den Mittelfinger zeigt.
In den letzten zehn, fünfzehn Jahren haben ich viele Leute kennengelernt, die mich dahingehend reichlich verblüfft und inspiriert haben. Menschen, die maximal zehn Dinge ihr eigen nennen und glücklich sind. Selbständige, deren erfüllende Tätigkeit in keiner Berufsliste auftaucht. Leute, für die jeder Tag ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ist. Menschen, die nicht für Geld, sondern für innere Erfüllung arbeiten.

Eine Bekannte mit einem verdammt gut bezahlten Management-Job hat selbigen einfach hingeworfen, die Wohnung gekündigt, ihre Möbel eingelagert, sich eine Backpacking-Ausrüstung zugelegt und durchwandert nun die Welt – vom Appalachian Trail über die Pyrenäen – und bloggt darüber. Wenn sie eine Auszeit vom Wandern braucht, kommt sie als Couchsurferin bei denjenigen unter, die sie unterwegs kennengelernt hat und die ebenso denken wir sie. Die Dame ist Mitte vierzig und alles andere als ein Hippie. Vor ihrem „Ausbruch“ aus dem normalen Leben hat sie ihre 2 Wochen Pauschalurlaub gemacht, in ihre Altersvorsorge eingezahlt und die monatlichen Leasingraten fürs Auto berappt.
Irgendwann ist ihr klargeworden, dass sie das nicht will und nicht braucht. Dass sie sich zu Tode langweilt.
Sie hat begonnen, zu hinterfragen.

Ein anderer Bekannter, Arzt mit gutgehender Praxis, hat festgestellt, dass er zwar eine Menge Kohle verdient, aber damit nichts anfangen kann. Zu wenig Zeit, zu viel Druck, noch mehr zu verdienen … Golfclub, Parties, Gadgets kaufen, Karibikurlaub, wieder ein neues BMW-Modell zulegen …
Er hat einen Strich gezogen. Seine Praxis ist nur noch zweimal die Woche geöffnet. Statt des schönen BMW fährt er nun einen Transporter, der als mobile Praxis dient. Damit betreut er Obdachlose, Menschen ohne Krankenversicherung, Flüchtlinge. Er sagt: „Jetzt weiß ich endlich wieder, warum ich unbedingt Arzt werden wollte.“
Klar hat er weitaus weniger Geld als vorher. Aber er braucht es auch nicht. Glück und Erfüllung lassen sich nicht kaufen.
Was seine Kollegen von ihm halten, könnt ihr euch denken. Aber so geht es jedem, der gegen die „Regeln“ verstößt.

Unser Leben ist darauf angelegt, uns langfristig in ein starres System einzubinden: eine Ausbildung machen, dann den Job durchziehen und darauf hinarbeiten, mehr Lohn zu bekommen, einen besseren Posten, mehr Einfluss … ein eigenes Haus über Kredite finanzieren, regelmäßig Dinge kaufen, die uns so sehr beschäftigen, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, ob wir sie wirklich brauchen (Tablets, Fernseher, Smartphones, Spielkonsolen). Wir essen, was alle anderen essen, schauen die Filme, die beworben werden, verbringen unseren Urlaub dort, wo schon zigtausende andere vor uns waren, schrauben an unserer Optik herum, weil das von uns erwartet wird ….
Im Hinterkopf steckt – da bin ich mir sicher – bei fast jedem der Gedanke: Eines Tages werde ich mit dem Leben anfangen, dem richtigen Leben! Meinem Traum folgen. Bis dahin muss ich erst noch dieses Dasein hier erledigen, weil: Es gibt keine Alternative.
Die Vollkasko-Mentalität hat uns fest im Griff. Es ist schandhaft und und unvernünftig, aus dem System auszubrechen und einfach zu tun, was immer man tun möchte. Das Damokles-Schwert „Scheitern und Verarmen“ hält die meisten davon ab, zu tun, was sie wirklich tun wollen.

„Wenn du Spaß daran hast, dann betreib es halt als Hobby“, ist der Standardsatz. „Aber sei nicht so dämlich und kündige deinen guten Job. Du stürzt dich ins Unglück!“
Warum eigentlich nicht? Was genau bringt einem der ungeliebte Job? Geld, klar.
Was macht man mit dem Geld? Miete, Essen, sonstige laufende Kosten bezahlen. Dinge kaufen, über deren Nutzen wir nicht nachdenken. Jeder hat diese Dinge, sie gehören zum, ähm, Lifestyle.
Wann bist du das letzte Mal durch deine Wohnung gegangen, vor einem Ding stehengeblieben und hast dich gefragt, welchen Nutzen es dir gebracht hat? Hat es dich glücklich gemacht oder dich davon abgehalten, etwas zu tun, was dir eigentlich mehr am Herzen liegt?
Denk an den Fernseher. Würdest du ihn einen Monat lang ausgeschaltet lassen, hättest du plötzlich ein gewaltiges Mehr an Zeit zur Verfügung, dass du darauf verwenden könntest, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das dir schon immer im Hirn herumspukt. Dein eigenes Kochbuch schreiben. Den Segelfliegerschein machen. Mit deinem Kind einen Youtube-Kanal betreiben. Ein Instrument lernen oder einen Roboter bauen.
Sobald man beginnt, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen wie das abendliche Anschalten der Glotze, wird man auch andere Selbstverständlichkeiten kritischer betrachten. Brauche ich dieses oder jenes wirklich zum Glücklichsein oder lenkt es mich lediglich von dem ab, was ich wirklich tun will?
Nicht jeder wird anschließend sein ganzes Leben umkrempeln und als Künstler durch die Welt ziehen.
Aber man wird darüber nachdenken, was Leben, was Lebensqualität wirklich ist.
Wir haben uns, ohne es zu merken, in ein Hamsterrad sperren lassen und schlucken, was uns vorgesetzt wird. Die Gründe dafür sind einfach: Es ist bequemer, sicherer und man man gibt einen Großteil der Verantwortung für sein Leben ab. Wir befinden uns in der berühmten Komfortzone. Wir haben das Kämpfen für unser Glück verlernt, fürchten uns vor Anstrengung und dem Scheitern. Warum eigentlich?

Wenn du einen Traum hast, hör auf, ihn zu träumen! Mach dich daran, ihn Wirklichkeit werden zu lassen.
Brich hier und da mal aus dem gewohnten Dasein aus und tu, was du tun willst – nicht das, was alle anderen tun.
Lass das Handy übers Wochenende ausgeschaltet und nimm dir Zeit für dich; die Welt wird am Montag immer noch stehen.
Wirf ein paar Sachen weg, die du seit Monaten nicht mehr in den Händen hattest; du brauchst sie offensichtlich nicht.
Sei verrückt.
Du wolltest dich schon immer tätowieren lassen, hattest aber Angst vor dummen Sprüchen, missbilligenden Blicken, beruflichen Konsequenzen? So what? Auf dem Scheiterhaufen wirst du schon nicht landen.
Du wolltest schon immer nach Santiago pilgern, gehst aber im Alltag nicht einmal zu Fuß zum Einkaufen? Rate mal, was du am nächsten Wochenende tun wirst. Mach einen laaangen Spaziergang und freu über den Muskelkater am nächsten Tag, den sicheren Beweis, dass du wahrhaftig den ersten Schritt getan hast.
Mach eine Liste mit vier Spalten. In die erste Spalte schreibst du deine Träume auf (große und kleine Träume), in die zweite deine Ängste (Armut, Hohn und Spott, whatever), in Spalte drei listest du auf, was dir an deinem jetzigen Leben gefällt und in der letzten Spalte, was dir gar nicht gefällt.
Wo stehst du zur Zeit?
Mehr auf der „ich bin glücklich“-Seite oder mehr auf der „es könnte durchaus schöner sein“-Seite?
Wenn letzteres der Fall ist, dann werde unbequem – auch dir selbst gegenüber. Brich aus dem Trott aus und hinterfrage alles, was du bisher für selbstverständlich gehalten hast. Werde unvernünftig.. Lächle über das Kopfschütteln der „Vernünftigen“.
Bestimme selbst über deine Lebenszeit, du hast nämlich nicht unendlich viel davon.

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