Ich stecke ja gerade knietief in der Rohfassung von Forever Nomad, der Fortsetzung zum Lucky Bastard.
Wie immer habe ich mir vorher einen wahrhaft buchpreisverdächtigen genialen Plot zurechtgedengelt mit hübschen Twists und Holla-die-Waldfee!-Spannungsbögen und einer raffinierten Kapitelaufteilung. Das mache ich ja immer so. Und die klugen Schreibratgeber sagen auch: Mach das so.
Der schicke Plot lächelt mich an und möchte, dass ich ihn jetzt runterschreibe.
Das mache ich dann auch.
Bis dann DIESER PUNKT kommt.
Und er kommt immer, ich schwöre.
Bei jedem verdammten Manuskript erreiche ich irgendwann diese schlecht ausgeschilderte Stelle, wo ich treudoof auf den schmalen holprigen Waldweg abbiege und mich frage, wo denn der Ort sein soll, den ich laut meinem schlauen Plot doch langsam mal erreichen müsste.
Ich halte an und will wenden. Der Motor gibt ein Husten von sich und beschließt, zu sterben. Nix geht mehr. Das Scheinwerferlicht erlischt.
Und dann tauchen da so Schemen zwischen den Bäumen auf …

An DIESEM PUNKT wird das Schreiben für mich zum Abenteuer. Ich weiß zwar immer noch, wie die Geschichte endet, aber ich weiß ums Verrecken nicht, wo ich mich gerade befinde. Das ist spannend. Und beängstigend.
Vor allem dann, wenn eine Gestalt ans Fenster auf der Fahrerseite klopft und sagt: „Steig aus.“
Kennt ihr diese Gruselfilm-Situationen, wenn die dumme blonde Heldin mutterseelenallein auf der Landstraße mit ihrer Karre liegenbleibt, keinen Handyempfang hat und beschließt, zur nächsten Tanke zurückzumarschieren?
„Bleib im Wagen sitzen, du dumme Trutsche!“ brüllt man und wirft ein Kissen gegen den Bildschirm. Dumme Trutsche steigt natürlich aus, weil sie nicht umsonst Dumme Trutsche heißt.
Nehmen wir mal an, ich bin Dumme Trutsche (nur beispielhaft. Also bitte!). Was sollte ich auf keinen Fall machen?
Richtig.
Und was macht Catalina?
Ganz genau.
Catalina steigt aus, fröstelt ein bisschen im eisigen Nachtwind und fragt sich gerade, ob sie ihren Verstand im Handschuhfach liegengelassen hat.
Die Gestalt sagt: „Nett, dich kennenzulernen, du dumme blonde Trutsche. Oh, übrigens, Ich spiele ab jetzt mit.“
Klasse. „Da hätte ich aber auch noch ein Wörtchen …“
„Hast du nicht.“ Die Gestalt wendet sich ab und stapft ins Unterholz. „Ab jetzt geht’s hier entlang.“
Wir alle wissen, dass die dumme Blondine immer das erste Opfer des irre grinsenden Hinterwäldlers mit der Axt wird. Immer. Das ist Naturgesetz. Ich bin eigentlich nicht blond, aber jetzt gerade schon. Hellblond.
Ich latsche also treudoof der Gestalt hinterher, quer durchs Brombeergebüsch (Ich mag Brombeeren, aber ich hasse diese verflixten dornigen Ranken, die sich überall bissig festhaken. Da hat die Natur sich wieder halbtot gelacht bei der Erfindung. „Ihr wollt leckere Brombeeren? Dann lasst euch vorher gefälligst gründlich von Dornenranken auspeitschen, bittesehr.“). Ich stolpere im Stockdustern über Wurzeln und Totholz und bin irgendwann so schlau, zu fragen: „Sag mal, wer bist du eigentlich?“ Müllmann? Mechaniker? Massenmörder? Held, Opfer oder Killer?
„Wenn ich das sage, ist doch die Überraschung dahin“, sagt die Gestalt und verschwindet im plötzlich aufkommenden Nebel der Ungewissheit. „Du musst schon mitkommen, wenn du es herausfinden willst.“
Wir Autoren mögen mitunter ja ziemlich hellblond sein. Aber wir sind auch wahre Helden. Bei so einer netten Einladung kann doch niemand widerstehen, gell?
Dumme Trutsche wirft noch schnell einen Blick zurück. Vom Auto ist nichts mehr zu sehen, dafür schälen sich überall Schemen aus der Dunkelheit. Möglicherweise haben einige rot glimmende Augen, andere einen echt penetranten Knoblauchatem. Vielleicht – wenn man Glück hat – piepst irgendwo ein Handy und man weiß, dass man noch nicht allzu weit von der Realität abgedriftet ist. Aber man möchte auch nicht wissen, wer da gerade wen anruft.

Was ich damit sagen will: Warum tut die Geschichte eigentlich nie, was der Plot will? Ich habe da so ein tolles Dokument mit dem überaus grandiosen Titel „Cast & Co“. Dort sind alle Charaktere aufgeführt, die in meinem Plot vorkommen.
Na toll, jetzt darf ich die Liste verlängern.
Ich nenne das den „Hups, wo kommt der denn her?“-Effekt, der immer dann eintritt, wenn man sich mit seinem Plot und seiner Charakterliste auf der sicheren Seite wähnt.
Meine Muse (die mit den haarigen Zehen, die immer etwas mitgehen lässt, ihr wisst schon) kichert verschlagen, krakelt auf meiner Plot-Landkarte herum und schickt mich auf diese Abzweigung in den finsteren, finsteren Wald, wo all die seltsamen Gestalten herumlungern und auf dumme Autoren lauern.
Später, viel später torkle ich wieder aus dem Unterholz, den Kopf voller Bilder und Szenen und neuer Namen und grabsche nach dem Griff der Fahrertür. Natürlich springt der Motor jetzt ohne Mucken an und ich darf nach Hause fahren.

Weil ich das Spiel schon kenne, stocke ich meine Kaffeevorräte auf. Denn wenn ich das nächste Mal verschlafen gähnend in meine Schreibklause tappse, werden sich auf meinem Sofa ein paar Figuren flegeln, die ich bisher nur als Schemen von hinten im düsteren Plotwald gesehen habe. Jetzt kann ich sie genauer betrachten.
Der eine trägt abgewetzte Bikerklamotten und hat ein großspuriges Grinsen aufgesetzt, der andere – ein irgendwie gefährlich wirkender Kerl, der aber irgendetwas Faszinierendes an sich hat, über das ich noch nachdenken muss – starrt mich an, als wäre ich etwas, das er aus dem Profil seiner Schuhe gekratzt hat.
Die Dritte im Bunde, ein hübsches Mädel mit einem wilden Bob, knabbert an meiner (meiner!) Edelbitterschokolade herum. „Ich brauchte das gerade, um meine Nerven zu beruhigen, weißt du? Es ist so viel geschehen“, sagt sie entschuldigend. „Schokolade ist gut für die Nerven.“
Danke auch. Und was ist mit meinen Nerven?
Überhaupt: Was bedeutet eigentlich Es ist so viel geschehen?
Ich werfe den Rechner an, schiebe meinen tollen, in wochenlanger Denkarbeit ertüftelten Plot in den Papierkorb und seufze leise. „Na gut, dann legt mal los mit eurer Geschichte“, sage ich ergeben.
(Würde es Arbeitszeugnisse für Schreiberlinge geben, stünde in meinem: Sie hat sich stets bemüht, die dumme Trutsche.)
In dieser Nacht habe ich Dammit kennengelernt, Saint und Pepper. Und noch ein paar andere interessante Gestalten. Ihr werdet sie auch kennenlernen, fürchte ich. Tut mir leid. Nein, tut es nicht. Hehe.
Hoffentlich weiß ich bis zur Veröffentlichung, wer der Massenmörder mit der Axt ist (bildlich gesprochen natürlich – ich schreibe ja keine Slasher-Romane).
Und hoffentlich bestehen die nicht alle auf ihre eigene Fortsetzung … Die haben schon so hinterhältige Andeutungen gemacht.