Freitag, Open House Party bei einem einschlägig bekannten MC:
Eine junge Frau – nennen wir sie Sandy – nähert sich dem Eingang, der von einem Prospect bewacht wird. Der Mann mit der Optik eines Panzers geht der Frau entgegen und donnert ihr wortlos die Faust ins Gesicht.
Geschrei. Blut. Noch mehr Geschrei.
Die Polizei kommt und nimmt den Prospect fest, die Frau wird ins Krankenhaus verbracht.
Die Geschichte ist wahr.
Der Vorfall machte in der Stadt schnell die Runde. Brutaler Rocker schlägt junge hübsche Frau grundlos zu Klump. Empörte Politiker und besorgte Bürger forderten ein Durchgreifen, gar eine Schließung des Clubhauses.
Meine Freundin, die niemals auch nur in die Nähe Clubhauses gehen würde, sagte sinngemäß: »Siehste, Cat. Wenn du weiterhin mit solchen Leuten zu tun hast, dann wird man eines Tages deinen steifen kalten Körper aus einem Müllcontainer bergen.« (Sie neigt zu dramatischen Formulierungen).
Besagte Freundin ist, wie ihr euch schon denken könnt, nicht ganz vorurteilsfrei, wenn es um die Rocker geht. Ich habe sie mal zu einer Party eingeladen, aber sie hat irgendwo gehört, dass Frauen dort zum Einstand von der gesamten Mannschaft vergewaltigt würden, also verzichtet sie dankend und guckt lieber Tatort. Dennoch: Obwohl ich privat mit einem OMCG verbandelt bin, hält sie an der Freundschaft fest. Das will was heißen; in meiner Familie und im Freundeskreis habe ich durch diese subversive Verbindung massiv Sympathien eingebüßt (was wiederum viel über den Wert mancher Freundschaften aussagt).
Zurück zu Sandy und ihrem lädierten Gesicht.
Das Verfahren gegen den Prospect wurde eingestellt; Sandy hat keine Anzeige erstattet. »Natürlich nicht. Sie wurde bestimmt von den Rockern eingeschüchtert«, sagte meine Freundin.
In der Rockerszene selbst regte sich niemand über die Sache auf, aber nicht, weil es dort zum guten Ton gehört, Frauen zur Begrüßung die Nase zu brechen, sondern weil bald die Hintergründe zu der Geschichte die Runde machten.
Es gibt da nämlich noch eine andere Frau – sagen wir, sie heißt Bibi.
Bibi, von Beruf Kindergärtnerin (korrekter: Pädogische Fachkraft bwz Erzieherin), hat auf einem Schützenfest einen jungen Mann kennengelernt. Dass der junge Mann zu einem berüchtigten MC gehört und von den anderen Besuchern komisch angeguckt wurde, war Bibi egal. Sie ist da vorurteilsfrei und außerdem hatte sie schon ein paar Weinschorle intus. Man flirtete, redete, traf sich zwei Tage später wieder, ging essen, ins Kino. Das Übliche halt. Aus dem Techtelmechtel (hach, ich liebe altmodische Worte) wurde nicht nur zu Bibis Überraschung eine ernsthafte Beziehung.
Sandy, die oft im Clubhaus abhing, freute sich nicht über das Glück der beiden. Sie war krankhaft verliebt in den Biker und liebäugelte damit, Old Lady zu werden. Das Objekt ihrer Begierde entschied sich zu ihrem Verdruss leider für besagte Bibi und aus Sandys verliebter Fixierung wurde Hass, der sich wiederum gegen die vermeintliche Konkurrentin richtete.
Also begann Sandy, Bibi zu drangsalieren. Erst waren es nur Zettel unter dem Scheibenwischer ihres Fiat, dann in den Autolack geritzte Botschaften, in denen das Wort Schlampe verdächtig häufig Verwendung fand. Nächtliche Anrufe, Sekundenkleber in den Türschlössern, Hundescheiße auf der Fußmatte oder der Motorhaube, vergossene Cola im Briefkasten.
Bibi hatte keine Ahnung, wer da sauer auf sie war; sie kannte Sandy überhaupt nicht. Ihr Freund und sie trafen sich meist außerhalb des Clubs, obwohl natürlich längst alle wussten, dass er eine feste Beziehung hat. Sie erzählte ihm nichts von der Sache, weil sie erstens eine Arbeitskollegin in Verdacht hatte und zweitens nicht zu Unrecht befürchtete, dass er die unschöne Angelegenheit auf seine Art regeln würde.
Sie ging zur Polizei, aber die konnte ohne einen Tatverdächtigen nicht viel ausrichten. Man gab ihr mehr oder weniger sinnvolle Tipps mit auf den Weg, zum Beispiel umzuziehen.
Sie änderte stattdessen ihre Telefonnummer.
Bald darauf wurde Bibi von ihrer Chefin im Kindergarten mit einer anonymen Anzeige konfrontiert, die behauptete, sie würde ihre Schützlinge verprügeln. Ihr Auto musste in die Werkstatt, weil jemand Zucker in den Tank geschüttet hatte. Dann waren alle vier Reifen platt. Eines Tages fand ihr Hund eine Fleischwurst, die jemand auf den Balkon geworfen hatte. Er fraß sie und starb qualvoll. Die Wurst war mit zerbrochenen Rasierklingen gespickt worden. Bibi drehte fast durch.
Jetzt konnte sie auch ihrem besorgten Freund nicht mehr verschweigen, dass sie schon länger Opfer böswiliger Attacken war. Er sagte, er werde sich kümmern.
Ein paar Prospects verbrachten abwechselnd die Nächte vor ihrem Haus, gut sichtbar. Ruhe kehrte ein. Bibis Freund zog die Bewacher ab. Eine Woche später flog ein Backstein durchs geöffnete Fenster und traf Bibi am Kopf.
Die Bewachung wurde fortgesetzt; diesmal versteckten sich die Prospects. Einer ertappte Sandy, als diese aus ihrem eigenen Auto hinaus eine Flasche Ketchup auf die Windschutzscheibe von Bibis Fiat warf.
Sandy gab Gas, konnte entkommen und ward nicht mehr gesehen …
… bis sie im darauf folgenden Jahr bei besagter Open House Party auftauchte, überzeugt, über die Sache wäre längst Gras gewachsen. Vielleicht hoffte sie sogar, die beiden hätten sich getrennt.
Der Prospect an der Tür – derjenige, dem sie damals entwischt war – erkannte sie sofort und rastete aus. Das Ergebnis war besagte gebrochene Nase.
Lange Vorrede, kurzer Sinn: Jener Prospect hat die Angelegenheit spontan auf die Weise geregelt, die ihm gerade am effektivsten erschien. Nicht elegant, juristisch äußerst fragwürdig, aber in seinen Augen effektiv. Ab sofort hatte Bibi ihre Ruhe.
Die Öffentlichkeit erfuhr von diesen Hintergründen natürlich nichts.
Rocker, also die echte Sorte, sind keine Chorknaben, sondern Machos mit nostalgischen Ansichten und der Neigung, Dinge nicht allzu kompliziert werden zu lassen. Der Club ist ihre Familie und ihr Leben. Das Colour, das Clubhaus und jeder, der dazugehört, werden mit allen Mitteln verteidigt. Juristische Feinheiten oder moralische Abwägungen spielen eine untergeordnete Rolle. Man greift zu Wildwestmethoden, weil die halt immer schon funktioniert haben und man ordentlich Dampf ablassen kann. Außerdem verschafft man sich so mehr Respekt, als wenn man sagt: „Du, das mit dem Brandsatz gestern fand ich irgendwie echt nicht okay. Können wir da mal drüber reden?“
Ein Einprozenter, der nachts von Membern eines verfeindeten Clubs überfallen und seiner Kutte beraubt wird, kann natürlich zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Das wäre der korrekte, gesellschaftlich anerkannte Weg.
Wenn er sich dann das nächste Mal auf der Straße blicken lässt, wird man ihm auch noch die Buxe samt Unterhose abziehen und ihn mit Gaffatape am Laternenpfahl vor seinem Clubhaus fixieren. Tief im nackten Hintern steckt eine Bierflasche, in der sich wiederum eine Kopie der zusammengerollten Anzeige befindet. Anschließend wird sein Club ihn einstimmig rauswerfen (auch das ist übrigens eine wahre Geschichte, die nie den Weg an die Öffentlichkeit fand).
1986 prägte ein Plakat der Polizei maßgeblich das Bild der Rocker in der Öffentlichkeit: Bewaffnet, kriminell, gewaltbereit, gefährlich. Dieses Plakat war der Auslöser für die Gründung der Biker Union, in der sich die MCs an einen Tisch setzen und über Wege aus der Diskriminierung der Rocker-Szene beraten wollten. Die Biker Union gibt es immer noch, aber Erfolge verzeichnen sie nur im Bereich der politischen Arbeit zu verkehrstechnischen Fragen wie Lärmbestimmung und Abgasuntersuchung. Das Bild der Rocker als gewalttätige, kriminell organisierte Bandenmitglieder bleibt bestehen.
Daran sind die MCs beileibe nicht unschuldig. Einige Chapter kontrollieren das gesamte Rotlichtmilieu einer Stadt, andere kämpfen um die Macht im Drogengeschäft oder führen blutige Kriege gegen konkurrierende Clubs, in denen auch mal zu Sprengsätzen gegriffen wird.
Warum tun die das?
Vor etwa fünfzig Jahren, als Biker sich noch vornehmlich mit dem Dasein als prügelfreudiger, schmuddeliger Bürgerschreck begnügten, verdienten viele nicht-motorradfahrende Gruppierungen sich bereits eine goldene Nase mit dubiosen Geschäften. Sie beschäftigten die finanziell oft klammen Rocker als Kuriere, Leibwächter, Geldeintreiber. Es dauerte nicht, bis die ersten ehrgeizigen MCs auf den Trichter kamen, nicht länger nur den Handlanger zu spielen, sondern selbst die Geschäfte in die Hand zu nehmen. Die Brüder in den Staaten hatten es ja bereits vorgemacht. Statt sich also weiterhin dem Biken, Saufen, Kiffen und Rumvögeln zu widmen, machte man sich engagiert daran, die Clubkasse auf kreative Weise zu füllen. Man lernte von den echten Gangstern und nutzte zudem den Vorteil, einen schlagkräftigen loyalen MC im Rücken zu haben.
Andere MCs wollten bald auch ein Stück vom Unterwelt-Kuchen abhaben und zogen nach. Existenzgefährdende Konkurrenzen entstanden. Man musste seine Mitgliederzahl erhöhen, um seine Pfründe nicht zu verlieren. Es wurde rekrutiert auf Teufel-komm-raus. Manchmal traten ganze Street Gangs oder kleine Clubs geschlossen einem großen MC bei. In den Reihen der Rocker fanden sich plötzlich Gestalten, die mit der ursprünglichen Easy Rider-Szene nicht viel am Hut hatten, die sich dafür aber bestens im Rotlicht- oder Drogenmilieu auskannten.
All das hatte massive politische und juristische Maßnahmen zur Folge. Bilder von Razzien, von Rockern in Handschellen und Blutflecken auf dem Asphalt machten regelmäßig in den Medien die Runde.
2006 gab ein OMCG-President erstmals öffentlich zu, dass in der Vergangenheit »etwas schief gelaufen« sei. Man habe zu viele falsche Leute aufgenommen, die den OMCGs eine neue, gefährliche Ausrichtung gegeben habe. Man habe sich auf sehr schmutzige Geschäfte eingelassen, die den Clubs langfristig schadeten und gestandene Member der Alten Schule dazu brachten, ihre Kutte auszuziehen. Man müsse das Ruder herumreißen, bevor man aus dem Abwärtsstrudel nicht mehr herauskomme. Andere Präsidenten unterstrichen diese Aussagen.
Seitdem verändert sich die Szene sukzessive. Aus den Reihen der Member verschwinden nach und nach die Gangster. Man besinnt sich verstärkt auf alte Werte und auf den Grund, warum es überhaupt MCs gibt. Die Führungsebenen in den großen Clubs wechseln. Der Presi ist kein vorbestrafter Rotlichtkönig mehr, sondern ein Bäckermeister oder Fertighaus-Anbieter. Harmlos sind sie trotzdem nicht, auch wenn sie auf dem Papier eine weiße Weste haben. Loyale Member nehmen für ihren Prez oft die Gefängnisstrafe auf sich. Der Hauptgrund von Verhaftungen in der Rockerszene ist Körperverletzung aufgrund einer Schlägerei mit einem anderen Rocker.
Die Clubs wagen sich vorsichtig an die Öffentlichkeit, rufen zu Demos gegen Diskriminierung auf und greifen vermehrt auf juristische Mittel zurück, wenn eine Razzia, ein Kuttenverbot oder eine Festnahme auf fragwürdigen Gründen beruht, statt wie früher in einem Akt hilfloser Wut den Richter auf dem Parkplatz zu bedrohen.
Rocker haben keine nennenswerte Lobby in der Öffentlichkeit. Wenn ein bekannter MC eine Party ankündigt, riegelt die Polizei die Straßen ab, »um einen reibungslosen Verlauf der Veranstaltung zu gewährleisten«. Dies beinhaltet das Filzen sämtlicher, auch der weiblichen, Gäste, die gründliche Überprüfung ihrer Personalien nebst Eintragung in eine »Liste von Unterstützern« und einschüchterndes Gebaren von maschinengewehrtragenden Bereitschaftspolizisten, bevor man sie passieren lässt – und zwanzig Meter weiter erneut anhält und durchcheckt. Danach fühlt man sich, als habe man einen Stempel mit der Aufschrift Wir haben dich ab jetzt im Auge, du latent kriminelles Subjekt! auf die Stirn gedrückt bekommen.
Der Öffentlichkeit wird signalisiert: Das sind alles Gangster und wir rechnen mit dem Schlimmsten! Kein normaler Mensch kommt bei diesem abschreckenden Aufgebot auf die Idee, sich mal selbst ein Bild während des Open House Abends zu machen. Die meisten Bürger begnügen sich mit dem, was sie aus den Medien erfahren und das ist alles andere als sympathisch.
Doch die Fakten bleiben auf der Strecke.
Im Jahr 2012 richteten sich 26 von 568 Ermittlungsverfahren gegen MC-Member (das sind 4,6%). 2014 gab es sieben (in Worten: 7) Verfahren wegen Rockerkriminalität.
Wenn man diese Zahl der hohen Anzahl an Razzien, Verhaftungen und Vernehmungen, Straßensperren, Vereinsheimschließungen und Kuttenverbote gegenüberstellt, fällt einem ein gewisses Ungleichgewicht auf. Nicht nur mir, auch angesehene Juristen geraten ins Grübeln.
Florian Albrecht, Rechtsanwalt und Akademischer Rat der Uni Passau sowie Dr. Frank Braun, Regierungsdirektor an der FHÖV NRW in Münster, sind öffentlich der Meinung, dass polizeilicher Aufwand und Kriminalitätswirklichkeit, die Rocker betreffend, in keinem Verhältnis stehen. Interessant ist in ihrem Artikel folgender Absatz:
Das Vorgehen der Polizei ist Teil einer erhebliche Ressourcen bindenden Gesamtstrategie. In Kooperation mit den Medien soll in der Öffentlichkeit das vermeintlich positive Bild der Rocker korrigiert, das staatliche Gewaltmonopol unterstrichen und das Sicherheitsgefühl der Bürger verbessert werden.
Effektive Schadensverhinderung? – Fehlanzeige. Vielmehr wird durch Polizei und Medien das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung manipuliert und instrumentalisiert. Es werden Gefahrenlagen suggeriert, die faktisch so nicht bestehen.
(Quelle: Rockerkriminalität: Die Polizei auf Abwegen)
In Skandinavien, das früher oft von Rockerkriegen erschüttert wurde, hat sich das Blatt übrigens gewendet: In einer dänischen Kleinstadt nehmen Einwohner „ihren“ Hells Angels MC vor den Behörden in Schutz, die den Club unbedingt loswerden wollen.
Das Szenemagazin Biker News listet derzeit roundabout 280 Rockergruppierungen auf, davon rund 70 in der Szene anerkannte MCs – vom Lion of Judah MC über die Hunters bis hin zu den Heaven’s Own. Kaum einer hat je von denen gehört, denn – Überraschung! – nicht jede Gruppierung gehört zur schlagzeilenträchtigen organisierten Kriminalität.
Die Fratres Damnati (Die »Verdammten Brüder«) sagen von sich: »Wer in seinem Beruf noch Karriere machen möchte, der ist bei uns falsch.“ Ihre Member arbeiten nicht im Milieu und schlagen in ihrer Freizeit auch keine anderen Biker zusammen, weil die die falschen Farben tragen. Sie sind Sanitäter, Justizmitarbeiter, Feuerwehrleute, sogar Polizisten. Ihr MC wird totgeschwiegen, vermutlich weil er nicht in das Klischee der bösen Rocker passt. Im Job haben sie Probleme wegen ihrer Tätowierungen, ihrer Kutte und der Nähe zur Rockerszene. Zwar pflegen die einschlägigen Clubs logischerweise keine engen Kontakte zu den Fratres, aber man lässt sie unbehelligt, was wiederum dazu führt, dass sie im Job erst recht misstrauisch beäugt werden.
Die Fratres sehen sich selbst als LEMC, als Law Enforcement Club und halten sich an den Ehrenkodex der Einprozenter: Respekt, Loyalität, Ehre.
Es ist immer wieder ärgerlich zu hören, dass sogar erfahrene Biker gerne Rockerclubs und Street Gangs in einen Topf werfen.
Street Gangs haben einen völlig anderen Hintergrund, stammen oft aus der Türsteher- oder Kampfsportszene und machen sich den Ruf einer Bikergang zunutze, um ihre Interessen durchzusetzen. Optisch unterscheiden sie sich nicht von Rockern; sie tragen Kutten mit Abzeichen und heißen Black Jackets oder Red Label. Aber sie teilen weder deren eiserne Regeln noch die Werte, auf die Rocker so stolz sind. Auf YouTube verbreiten sie martialische Videos mit Kampfansagen und rekrutieren ihre Mitglieder vorwiegend unter den Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten. Ihre Vorgehensweise ist extrem brutal, ihre Hemmschwelle gering. Sie greifen jeden an, ob Rocker, Polizist oder Bürger. Sie sagen den großen MCs wie den Hells Angels, Outlaws oder Bandidos offen einen blutigen Kampf an und geben Parolen heraus wie: »Wir übernehmen Deutschland!«. Ihre internen Hierarchien wechseln ständig, und auch wenn manche von ihnen sogar Motorrad fahren, haben sie mit dem Kodex der Biker nichts am Hut. Ihnen geht es nicht um den Zusammenhalt untereinander, sondern um Macht und Geld. Sie sind das, was ein Bandido mal lapidar als »gewinnorientierte Zweckgemeinschaft« bezeichnete. Hinzu kommen ethnische Konflikte unter den Gangs, die in blutige Straßenschlachten eskalieren können, wenn beispielsweise die kurdischen La Fraternidad auf die meist türkischen Black Jackets treffen.
Street Gangs haben maßgeblich die negativen Veränderungen in der Subkultur beeinflusst. Die großen MCs mussten mit der neuen Entwicklung erst mal klarkommen und sich gleichzeitig gegen die Brutalität der Street Gangs zur Wehr setzen.
Den normalen Bürger interessiert die Unterscheidung zwischen Rockerclub und Street Gang ebenso wenig wie den Biker in der bunten Lederkombi: Man wirft alles, was eine Kutte trägt, in den großen schwarzen Bottich mit der Aufschrift ACHTUNG – GEFÄHRLICH!
Manchmal landet dann auch ein harmloser Dentist in dem Topf.
Ich schwöre, Harleyfahrende Zahnärzte, Manager und Anwälte sind kein Klischee! Es gibt sie wirklich; ich kenne nämlich so einige. Sie liebäugeln gern mit der romantisierten Vorstellung vom Outlaw Biker, der allein durch seine Maschine und sein Auftreten gefürchtet wird.
Sie tragen Braincaps (Halbschalenhelme) und fiese schwarze Boots und binden sich das Tuch nicht vor dem Mund, weil sie keine Käfer zwischen den gepflegten Zähnen haben wollen, sondern weil es so geil Banditen-mäßig aussieht. Ihre Bikes sind gerne schwarz und mit Schädeln verziert und wenn sie am Sonntag von Treff zu Treff fahren (und nach 3 Stunden dezent über Rückenschmerzen klagen, weil das Muscle Bike mit dem megabreiten Hinterreifen zwar beeindruckend aussieht, aber nicht tourentauglich ist), dann oftmals in einer Kutte. Das macht mächtig Eindruck, wenn die letzte Station des Tages die örtliche Eisdiele ist.
Auch ihre Kutten sind mit Patches verziert. Man kann die Dinger im Netz kaufen oder auf Veranstaltungen erstehen. Oder man bekommt eines, wenn man eine nagelneue Harley beim Vertragshändler ordert; dann wird man nämlich automatisch HOG-Member, ob man will oder nicht.
Viele Freebiker allerdings nehmen ihre Kutte ernst und nähen nichts darauf, das nicht direkt mit ihrer Person zu tun hat. Es sind Freundschafts-, Unterstützungs- oder Gedenkpatches, der Rückenaufnäher einer Gemeinschaft oder Erinnerungen an Orte, an denen sie waren – das legendäre Sturgis beispielsweise oder die Jubiläumsfeier eines OMCG.
Auf anderen Kutten sieht man Fantasiecolours wie beispielsweise das Backpatch der TV-Serie Sons of Anarchy oder etwas anderes Beeindruckendes, das gemeinhin einen Schädel, ein finsteres Symbol und eine martialische Beschriftung beinhaltet.
Als Träger einer Kutte muss man damit rechnen, aus derselben geprügelt zu werden, wenn sie einem MC-Colour ähnelt, zum Beispiel, weil sie dreiteilig ist, aber eben keine ist. Das hat damit zu tun, dass der Einprozenter seine Welt nicht veralbert sehen möchte. Ein echtes Backpatch muss man sich schwer verdienen und das kann mehrere Jahre dauern. Gefakte Colours gelten als Anmaßung und Respektlosigkeit gegenüber denen, die reale MC-Backpatches tragen. Das einzige nicht-MC-Backpatch, das die Szene duldet, ist das der Harley Owners Group, und auch dies nur zähneknirschend, weil man keinen Bock auf einen juristischen Krieg mit der mächtigen Company hat.
Die Träger von SoA-Merchandise-Artikel dürfen sich ebenfalls meist sicher fühlen, weil man sie schlicht nicht ernst nimmt. Auf den Kilometerzählern ihrer Maschinen steht selten eine fünfstellige Zahl, denn das mindert den Wert der Harley.
Nochmal: Ich schwöre, das ist die Wahrheit (Natürlich gibt auch viele, viele richtig coole, schlagkräftige, unkonventionelle Freebiker, die einfach keinen Bock auf Vereinsmeierei oder öffentliche Sippenhaft haben).
Ich traf mal auf einen gut betuchten Unternehmer, der die gleiche Maschine wie ich fuhr und nach einem Blick auf meinem exorbitanten Kilometerstand mitleidig sagte: »Also, dafür wäre mir das Bike ja zu schade. Das sieht ja richtig benutzt aus!« (An meiner Street Bob kleben Insektenleichen, unterm Rahmen hat der Lack Schaden genommen und die Auspuffendkappe habe ich auch bis auf den Endtopf durchgeschliffen. Kurvenfahren macht halt Spaß, Putzen ist nicht so mein Ding.)
Einprozenter heben sich daher auch von Wochenendrockern ab, indem sie fahren, fahren, fahren, möglichst selber schrauben, weitestgehend auf das Tuch vorm Gesicht und immer öfter auch auf einen Schädel als Tankverzierung verzichten. Oder sie bringen Patches heraus mit der Aufschrift Fuck SoA – Support a real MC.
Frauen sollten die Serie aus optischen Gründen dennoch mal schauen (siehe Foto, hüstel).
Manche Weekend Warrior schlagen auf Veranstaltungen gerne über die Stränge und legen auf das Negativbild der Rocker noch ein Schüppchen drauf. Der besoffene Anwalt auf der Bikerparty ist leider auch ein real existierendes Klischees.
Der Bürger sieht wieder nur: Aha, Kuttenträger. Gesocks!
Auf Open House Partys oder anderen öffentlichen Veranstaltungen ist es interessant, zu beobachten, wer als erstes auf den Boden kotzt oder die professionell-spärlich bekleidete Blondine angrabscht (absolutes No Go! Die Damen sind kein Freiwild, sondern vom Club als Tänzerin oder Bedienung gebucht und haben ein Recht auf ein sicheres Arbeitsumfeld).
Der gastgebende Club selber hält sich stark zurück mit dem Genuss alkoholischer Getränke. Sie tanzen auch nicht wild zur Live-Rockmusik (meist nicken sie nicht mal mit dem Kopf. Wenn ihr also zufällig zu einer örtlichen Band gehört und der hiesige OMCG euch engagieren will, überlegt es euch zweimal! Finster blickendes, mit verschränkten Armen herumstehendes Publikum kann sehr demotivierend sein).
Wenn Einprozenter mal richtig die Sau rauslassen wollen, tun sie es lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie wissen, warum.
Was ich damit sagen will: Die Rockerszene ist definitiv keine heile Welt, wo sich alle lieb haben. Die hauen sich ganz gerne mal gegenseitig den Kopf zwischen den Ohren weg, wenn die Situation es verlangt. Aber dabei bleiben sie unter sich.
Die pauschale Kriminalisierung einer ganzen Subkultur wird der Sache nicht gerecht, auch wenn kriminelle Auswüchse nicht zu leugnen sind. In den Medien taucht halt nur auf, was für Schlagzeilen taugt, vom großen Rest bekommt niemand etwas mit. Es weiß auch kaum jemand, dass das LKA mal einen falschen Rockerclub gründete, um die Hells Angels zu Straftaten zu provozieren.
Eine Journalistin, ein Angels-Präsident, der gleichzeitig auch selbständiger Fotograf ist, und ein rechercheerfahrener Autor haben über mehrere Jahre herumgestochert, seziert und nachgebohrt und kommen in dem Sachbuch »Jagd auf die Rocker«, (das außerhalb der Szene wahrscheinlich kaum einer liest) zu dem nachweisbaren Schluss, dass die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel und juristischen Grundlagen diverser Aktionen oft fragwürdig sind und der Szene insgesamt durch systematische Kriminalisierung Unrecht getan wird.
Es gibt also wie überall im Leben solche und solche. Brutale Arschlöcher finden sich in den Reihen der Einprozenter ebenso wie in der Politik, der Polizei oder der Nachbarschaft in der Reihenhaussiedlung.
Den Rockern wird zum Verhängnis, dass sie sich sozusagen offiziell von den bürgerlichen Werten und Regeln losgesagt haben und »ihr eigenes Ding machen«. Damit haben sie sich zu Vogelfreien erklärt und benehmen sich mitunter auch so. Und für jedes andere Member gilt: Mitgefangen – Mitgehangen.
Was ihr aus der ganzen Sache macht, bleibt euch überlassen. Es gibt kein Gesetz, das Pauschalurteile verbietet. Aber es schadet sicher auch nicht, einfach mal jemanden zu fragen, der dazugehört. Die beißen nicht.