Verdammich! – oder warum bestimmte Romanfiguren Dinge tun, die ich nicht verstehe …

Verdammich! – oder warum bestimmte Romanfiguren Dinge tun, die ich nicht verstehe …

Manchmal könnte man bestimmte Leute ja dahin treten, wo die Sonne niemals scheint. Man könnte sie am Kragen packen und durchschütteln, bis die Zähne klappern. Und dabei Sätze hervorstoßen wie »Warum-tust-du-das?Du-bist-doch-sonst-nicht-so-blöde???«, wobei jedes Wort von einer satten Ohrfeige unterstrichen werden könnte.
Mit Bestimmte Leute meine ich in diesem Fall meine Romanfiguren. Ich würde an dieser Stelle ja gerne sagen, dass ich die Chefin im Hause Cudd bin und somit bestimme, wo es in meinen Romanen langgeht …
Haha, weit gefehlt.
Die Damen und Herren Charaktere tanzen mir auf der Nase herum, krempeln meinen grandiosen, in wochenlanger Arbeit mühevoll zusammengeklöppelten, selbstverständlich Buchpreisverdächtigen Hammer-Plot einfach mal so um. Immer – das tun sie immer. Ich schwöre.
Und ich sitze dann vorm Bildschirm, lese mit gefurchter Stirn und murmele verblüfft: »Was zum …? Das ist doch vollkommener Blödsinn, was die da macht!«

Foto: Harley-Davidson

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Aktuelles Beispiel: Juli alias Weeds aus »Lucky Bastard«. Juli hat sich nicht an unsere Absprache gehalten. Danke schön, Weeds.
Okay, um der Wahrheit die Ehre zu geben: es war eher meine Absprache, mein Buch, meine Entscheidungen. Ich habe weitschweifig erläutert, was ich mir so vorstelle. Die liebe Juli hat vage mit dem Kopf genickt und gedankenverloren ein welkes Blatt von meinem Alpenveilchen gezupft. Und anschließend etwas getan, was ich persönlich für total dämlich halte.
Nicht nur ich übrigens. Ich zitiere aus der Rezension einer Leserin: »Den Punktabzug gab es für die „Heldin“, die mir einfach zu blöd, zu naiv, zu gut war. […] Jede Frau, die ich kenne, würde einem Mann, der sie bis aufs Hemd ausraubt und den Wölfen zum Fraß vorwirft einen A-tritt geben. Statt dessen entschuldigt die Protagonistin diesen Kerl fortlaufend, versucht ihm mit völlig blödsinnigen Maßnahmen zu helfen […], hat ständig ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren BEINAHE-Freund, der sie verraten hat „betrügt“ und bemüht sich später auch noch um sein Verzeihen.«
Meine Rede, liebe Leserin.
Juli ist eine patente, kernige junge Frau, nicht auf den Mund gefallen und mit, ehm, interessantem Modegeschmack. Sie ist selbständig, hart im Nehmen und mutig. Kein Mädchen, das Angst vor Spinnen und abgebrochenen Fingernägeln hat und definitiv niemand, der den Großteil des Tages mit seinem Smartphone verbringt. Sie besitzt nicht mal eines.
Aber deswegen ist sie noch lange nicht vor Dummheit gefeit. Juli befindet sich in einer Ausnahmesituation, nein, eigentlich sogar in zweien. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit hat sie einen Mann kennengelernt, mit dem sie sich eine Zukunft vorstellen kann. Ein verdammich großer Schritt für sie. Gleichzeitig muss sie nach ihrer Rückkehr feststellen, dass ihr Zuhause kein sicherer Ort mehr und dass ihr Pflegebruder in Gefahr ist. Ihre altbekannte Welt steht auf dem Kopf, alles ist einer Bedrohung ausgesetzt.
Juli versucht, auf bestmögliche Art die richtige Entscheidung zu treffen, die da lautet: Lasse deinen Partner nicht im Stich, auch wenn er richtig fett Scheiße gebaut hat. Ihm den Rücken kehren und sagen »Sieh zu, wie du klarkommst, du Vollpfosten von einem Mistkerl«, das kann jeder. Das ist der leichte Weg. Und den will Juli nicht gehen. Sie will verzeihen, will beistehen, auch wenn es schwierig wird, und so diese Fast-schon-Beziehung auf ein festes Fundament setzen.
Die Geschichte mit den Prüfungen, gell? Schönwetter-Freunde gibt es zuhauf, aber auf wen man wirklich bauen kann, das zeigt sich erst, wenn der Orkan aufzieht und man so blöde ist, ohne Regenjacke und Anker nach draußen zu gehen.
Mick ist auch nicht gerade der strahlende Held, machen wir uns nix vor. Der kleine Schlaumeier hat fucking Bullshit gebaut, um es mit Frenchs Worten zu sagen. Er wollte Juli weder gefährden noch in seinen Schlamassel mit hineinziehen; verraten wollte er sie schon gar nicht (und er hat es auch nicht getan). Die Situation hat ihn überrannt und nun steht er mitten in einer Katastrophe und weiß nicht weiter. So weit, so bescheuert.
Tja, ich verstehe auch nicht, warum Juli dennoch an Mick festhält. Oder doch?
Angenommen, sie hätte ihm einen Tritt in den Allerwertesten gegeben und gebrüllt: »Ich bin fertig mit dir, du mieses Milchbrötchen!«, das wäre doch der Weg des geringsten Widerstandes gewesen. Fort mit Schaden. Beim kleinsten lauen Lüftchen macht die tapfere Weeds ihrer selbstgerechten Empörung Luft, vergisst all das Gute, das gewesen ist, und sucht sich einen Neuen, der hoffentlich weniger Schwierigkeiten bedeutet. Tolle Leistung. Das verlangt keinen Mut, gell?
Okay, ich verrate euch etwas: In meinem oberschlauen Plot war genau das so vorgesehen. Ein saftiger Kick-ass für Mick. Wäre alles nach meinem Plan gelaufen, hätte der Roman gute zweihundertfuffzich Seiten und ein paar Dramen weniger weniger gehabt (unter anderem den zweiten Besuch im berüchtigten Digger’s Inn und Frenchs feigen Abgang) und sowieso ein anderes Ende genommen.
Juli hat sich aber entschieden, sich an Mick zu halten, komme, was wolle. Mick ist dämlich, aber treu und liebevoll. Der erste Typ seit langem, dem sie sich öffnet. Sowas wirft man nicht mal eben über Bord. Entscheidungen trifft man mit dem Kopf und dazu muss man zunächst einen Denkprozess durchlaufen. Nicht ganz leicht in einer Ausnahmesituation. Manchmal grätscht auch noch das Bauchgefühl dazwischen, verursacht durch einen ganz gewissen arroganten Biker, und das Chaos ist perfekt.
Nachdem Juli mir also all dies erläutert hat, könnte ich sie zwar immer noch gepflegt durchschütteln, aber ein bisschen verstehe ich sie jetzt. Ich behaupte mal, jeder Kerl, der so ein Mädel wie unsere Weeds als Freundin bekommt, kann sich verflucht glücklich schätzen. Sie lässt ihren Freund nämlich nicht im Regen stehen, nur weil er gigantische Scheiße gebaut hat. Und das ist doch der Sinn einer echten Partnerschaft, oder?
Worauf ich hinaus will: Romanfiguren dürfen Dinge tun, über die wir Normalos entgeistert den Kopf schütteln. Sie müssen es sogar. Wenn sie exakt so wären wie wir, wären ihre Geschichten bestenfalls ein Abklatsch unserer eigenen Leben. Und die sind leider meist eher langweilig. Wenn Juli also Mick rechtzeitig mit einem satten Tritt in den Hintern aus ihrem Leben befördert hätte, wäre die Story zu Ende gewesen, Juli würde fortan ein ruhiges, ödes, durchschnittliches Leben führen und irgendwann den stellvertretenden Geschäftsführer eines Getränkemarktes daten. Bike? Tattoo? Schmerzhafte Erfahrungen? Nope.
Und wenn die gute, aber feige Weeds schon mit dem eher bürgerlichen Gamedesigner Mick nichts mehr zu tun haben will, weil der Schwierigkeiten bedeutet, dann wird sie erst recht einen groooooßen Bogen um sämtliche nomadisierenden Outlaw-Biker schlagen, die sich am Horizont blicken lassen, egal, ob sie süffisant grinsen, kernig aussehen und dezent nach Minze duften.
Wer bitte, möchte das lesen?
Also lasse ich Juli ihren Willen und schaue mir an, ob und wie ihr Verhalten polarisiert. Mir gefällt es, mit den Lesern darüber zu diskutieren und zu hören, wie sie in dieser Situation gehandelt hätten. Fast jede/r würde den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Ich übrigens auch. Aber ich heiße nicht Juli.
Jetzt bin ich recht froh, dass Juli gegen meinen superschlauen Plan gehandelt hat. Mit Sicherheit war es nicht die vernünftigste Entscheidung ihres Lebens, Mick trotz allem, was er getan hat, beizustehen, aber garantiert die interessanteste. Und was Frau Funke über Vernunft sagt, wissen wir ja mittlerweile alle.

Vernunft ist mitunter stinklangweilig.

Du kennst „Lucky Bastard“ noch nicht? Dann wird’s aber Zeit!

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