Mein Maronenbraten war gar köstlich, auch wenn er gewöhnungsbedürftig aussah (für den Notfall hatte ich ausreichend Rotwein bereitstehen, also zum Schöntrinken und so …) und da politische Diskussionen unterm Weihnachtsbaum strikt verboten sind, gab es auch sonst keine Toten.
Kennt ihr den Begriff Zwischen den Jahren? Das sind die seltsamen, halbproduktiven Tage nach Weihnachten und vor Silvester.
Heute gibt es also ein Zwischen-den-Jahren-Post:
Als ich noch jung war (also etwa gestern) hat meine Oma mir zu Weihnachten immer Bücher aus der in den Dreißigern erschienenen Jugendserie „Professors Zwillinge“ von Else Ury geschenkt, jedes Jahr eines (da war sie hartnäckig). Zu der Zeit las ich begeistert Isaac Asimov und George Orwell und war zu blöd, mit der Strickliesel diese langen bunten Kordeln zu stricken. Dafür hatte ich ständig aufgeschürfte Knie und kam nie nach Hause, wenn die Straßenlaternen angingen, weil wir mit dem Blechdosen-Kicken gegens Garagentor noch nicht fertig waren.
Meine Oma sah anscheinend dringenden Handlungsbedarf geboten.
„Professors Zwillinge“ also – Ganz, ganz, GANZ schlechte Lektüre für ein Ruhrpott-Blag! (Falls wer von euch diese Bücher kennt, wisst ihr, wovon ich rede). Man verspürt anschließend den dringenden Wunsch, nachts auszureißen, mit einer Dose Neon-Sprayfarbe und ner Flasche Cognac aus Papas Hausbar in Richtung Rathaus zu laufen, unterwegs Mercedessterne zu …ehm … sammeln (natürlich nur wegen der Besinnlichkeit; sind ja Sterne) und die eine oder andere Mülltonne umzutreten. Für eine Neunjährige zugegebenermaßen eine etwas seltsam anmutende Freizitbeschäftigung. Aber ich wette, all die Punker, Sprayer und Randalierer hatten früher zu Weihnachten „Professors Zwillinge“ unterm Baum liegen gehabt.
Nach einer solchen bildungsbürgerlichen Lektüre bleibt einem Arbeiterkind nur die Möglichkeit, in tiefste Depression zu verfallen ob der eigenen Unzulänglichkeit und der Tatsache, dass Papa bloß ein kohlestaubiger Bergmann oder KFZ-Meister im grauen Overall ist und die Mama, statt mit Schürze und warmem Lächeln noch wärmere Milch zu servieren, sich lieber mit ihren giggelnden Freundinnen auf einen Roadtrip zum Gardasee begibt. Fünf aufgedrehte Frauen in einem orangenfarbenen Opel Manta, und ihr Reiseproviant hatte ordentlich Umdrehungen – eat this, Professorenmutti!
Im Laufe meines Leser-Lebens habe ich nicht viele fiktive Charaktere aus tiefstem Herzen verabscheut, aber bei den Zwillingen Herbert und Suse – liebevoll „Bubi“ und „Mädi“ genannt – habe ich mir innigst gewünscht, sie wären real. Damit ich sie ein bisschen auf dem Schulhof verprügeln kann.
(Meine Oma hat mir übrigens auch immer Yogurette geschenkt, obwohl sie wusste, dass Yogurette und „Professors Zwillinge“ sich auf meiner persönlichen Geile-Geschenke-Skala um den letzten Platz kloppten. Bis heute grüble ich darüber nach, was meine Oma mir mit ihren Geschenken mitteilen wollte.)
„Professors Zwillinge“ hatten jedenfalls maßgeblichen Anteil an meiner straighten Entwicklung zum unartigen Mädchen.
„Die Hauptsache bei dem kleinen Mädchen sind Ordnung und Betragen, das ist mehr wert als alle sehr gut“. Zitat von Annemarie Brauns Mutter („Nesthäkchen“; Ausgabe von 1983), weil das Mädel in allen Fächern eine Eins bekommen hat, aber in Betragen und Ordnung eine fette Fünf. Ich weiß nicht, was aus Annemarie Braun wurde, aber ich hoffe, sie hatte eine wilde Zeit als Luxus-Escort-Girl und datet einen dominanten Trilliardär nach dem anderen.
Die Bücher der Erfolgsautorin Else Ury enthielten immer diese mehr oder weniger dezenten Hinweise, welche Eigenschaften ein anständiges Mädchen erwerben sollte. Harleyfahren oder Blechdosen-Kicken waren nicht darunter zu finden.
Zur Ehrenrettung von Else Ury muss man allerdings anfügen, dass sie schon 1906 ein Buch namens „Studierte Mädels“ heraus brachte, mit dem sie verdeutlichen wollte, dass eine akademische Ausbildung nicht zwingend dem weiblichen Ehe- und Familienglück im Wege steht.
Eine ungenannte Person hat mir vor Jahren mal das Buch „Ich hab mein Herz im Wäschekorb verloren“ von Emma Bomberg (Blomberg?) geschenkt. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass jene Person meinen Büchergeschmack nicht kannte und dachte, ein heiterer Familienroman kommt immer gut.
Kleiner Hinweis: Nope.
Ich möchte über den Inhalt des Buches keine weiteren Worte verlieren; mit dem Titel desselben ist bereits alles gesagt.
Aber wenigstens konnte ich mal von meinem Kindheitstrauma berichten und warum mir bei Familienromanen so komisch im Kopf wird. Der letzte Bikerroman, den ich gelesen habe, endete mit einer hochschwangeren, verheirateten Protagonistin. Damit endete auch die Geschichte dieser Portagonistin und mein Interesse an ihr. In den folgenden Bänden tauchte sie nur noch als Sidekick mit einem Kind am Rockzipfel auf, immer dann, wenn eine anständige Feier im Clubhaus stattfand.
Ah, verdammt, ich schweife ab.
Was ich damit sagen wollte, ist: Ich habe keine Ahnung, warum plötzlich eine Emma in einer Bullhead-Geschichte auftaucht. Es machte irgendwie Plopp! und da stand sie. Klein-Emma hat ein bedenkliches Faible für Sniper-Gewehre und heimlich geguckte Horrorfilme, aber immerhin flucht sie nicht. Sie wird eines Tages ein herrlich unartiges Mädchen sein, davon bin ich überzeugt.
Ich habe auch keine plausible Erklärung, warum ich überhaupt eine verrückte kleine Bullhead-Weihnachtsgeschichte geschrieben habe. Außer – mir war eben grad danach. Wegen der Besinnlichkeit und des Lichterglanzes und so. Der hastig genossene Glühwein auf dem Velener Wald-Weihnachtsmarkt hatte rein GAR NICHTS damit zu tun – ischschwör, hicks.
Echt jetzt, Leute: Müsst ihr denn ALLES klauen? Sogar eine verfickte warmherzige Weihnachtsgeschichte? (Hoffentlich ist euch der Tannenbaum auf den Schädel gekracht und hat euch dabei die kriminelle Energie rausgedroschen.)